Mittlerweile ist er Stammgast bei den Münchner Philharmonikern. Mit Bruckner allerdings war Tugan Sokhiev hier bislang noch nicht zu erleben. Nun interpretierte der russische Dirigent im Bruckner-Jahr die schwergewichtige Achte - auf höchstem Niveau am Werk vorbei.
Bildquelle: Tobias Hase
Kaum ein anderes Orchester beruft sich so offensiv und so stolz auf seine große Bruckner-Tradition wie die Münchner Philharmoniker. Natürlich vor allem wegen der legendären Bruckner-Interpretationen von Sergiu Celibidache, dessen Aufführungen in den 1980ern und 90ern absoluter Kult waren, im Guten wie im Schlechten. Aber die special relationship mit Bruckner reicht noch viel weiter zurück. Tatsächlich hatte sich das Orchester schon in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg mit mehreren Zyklen für den Komponisten eingesetzt, der auch nach seinem Tod zunächst noch heftig umstrittenen war. Damals wurde Bruckners eigenwillige Musik in der Regel in entstellenden Bearbeitungen gespielt. Während der NS-Zeit brachten die Philharmoniker dann mehrere Symphonien in Bruckners Originalfassung zur Welt-Erstaufführung. Wobei das mit dem Original bei Bruckner so eine Sache ist.
Von der Achten beispielsweise, Bruckners längster Symphonie, sind bis heute im Konzertleben drei verschiedene Fassungen in Gebrauch. Bruckner hatte ein notorisch schwaches Selbstbewusstsein, gerade auch gegenüber seinen Freunden. Und weil seine Musik in keine Schublade passt (sie ist in der Substanz radikal modern und zugleich in vielen formalen Dingen zwanghaft altmodisch), ließen Bruckners Berater oft kein gutes Haar an den Urfassungen seiner Symphonien. Deshalb ist es unmöglich zu entscheiden, ob die vielen nachträglichen Änderungen wirklich auf Bruckners ureigene Intention zurückgehen. Oder ob man einige auch als autoritätshörige Anpassung an die Konvention, also als bedauerliche Verschlimmbesserung werten darf.
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Diese Fragen sind entscheidend, um zu verstehen, warum die Interpretation von Tugan Sokhiev auf hohem Niveau am Werk vorbeiging. Um Bruckner zu dirigieren, braucht man nicht nur ein exzellentes Handwerk. Man muss vor allem sehr genau die Wegmarken und entscheidenden Wendepunkte einer riesenhaften Landkarte vor Augen haben. Man muss wissen und hörbar machen, welches Drama sich hinter der monumentalen Architektur verbirgt.
Die zweite Fassung der Achten, die Tugan Sokhiev mit den Münchner Philharmonikern am Freitag in der Isarphilharmonie spielte und anschließend mit auf Tournee nimmt, erzählt eine völlig andere Geschichte als die Urfassung. Ursprünglich sollte der erste Satz im Fortissimo enden. In der zweiten Fassung schließt er, in der Aussage konträr dazu, im pianissimo – buchstäblich am Boden zerstört, zuckend wie ein ersterbender Organismus in den letzten Atemzügen. Bruckner selbst sprach von der tickenden "Totenuhr". Dieser Satzschluss gehört zu den faszinierendsten Minuten von Bruckners Musik. Er ist eines der markantesten Ereignisse dieser Symphonie.
Wirken kann der atemberaubende Moment aber nur, wenn vorher die zerstörerische Energie spürbar geworden ist, die dieses letale Ende auslöst. Tugan Sokhiev serviert stattdessen schöne Klänge, akkurat vordirigiert. Wir hören satte Posaunenchoräle, prachtvolle Hörnerklänge und schmelzende Streicherkantilenen. Alles eine Spur zu langsam, ohne dabei auch nur von ferne Celis bohrende Intensität zu erreichen. Alles eine Spur zu rund. Es ist ja richtig und klug, nicht zu früh zu laut zu werden, damit noch Reserven bleiben für die lange Wegstrecke. Aber spätestens kurz vor dem Ende des ersten Satzes muss spürbar geworden sein, dass es in dieser Musik, trotz ihrer blühenden Schönheit, nicht um Klangschwelgerei geht. Sondern um Leben und Tod.
Auch in den anderen Sätzen werden Bruckners eklatante Brüche durch allzu organische Überleitungen geschmackvoll abgemildert. Sokhiev schmirgelt Bruckners Kanten ab. Und mindert das Ereignishafte dieser Musik, indem er mit seiner wunderschön anzuschauenden Zeichensprache den Musikerinnen und Musikern viel zu viele Einzelheiten vorgibt. Statt einen Puls zu erzeugen, gibt er einzelne Tonwechsel vor. Statt das wilde, ungezähmte Eigenleben der Musik zu wecken, führt er sie an der Leine.
Dabei hätten die Philharmoniker nun wirklich mehr Vertrauen verdient. Großartig die walddunklen Hornsoli, berührend, wie die Solooboe exakt im gleichen Tonfall darauf antwortet (und wie das Solohorn ohne jedes Vibrato!). Aber wenn im Finale kurz vor dem triumphalen Schluss noch einmal das bedrohliche Hauptthema des ersten Satzes wiederkehrt, dann muss das eben unbedingt ein Ereignis sein. Mehr als das: eine Katastrophe. Und nicht ein Mezzofortissimo unter vielen anderen. Ohne Katastrophe braucht’s auch keine Erlösung. Und ohne diese Fallhöhe, ohne einen klaren Plan, dass diese gigantische Architektur von enormen psychologischen Spannungen, von existenziell aufreibenden Brüchen durchzogen ist, bleibt Bruckners Musik unter ihren Möglichkeiten. Auch wenn sie so tonschön musiziert wird wie an diesem Abend.
Sendung: Piazza am 19. Oktober 2024 ab 9:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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