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Philharmoniker-Intendant zieht Bilanz Thielemann, Maazel, Gergiev, Shani

Mit Christian Thielemann gab es einen großen Knall. Lorin Maazel verstarb während seiner Amtszeit. Valery Gergiev musste nach dem Überfall auf die Ukraine gehen. Als Intendant der Münchner Philharmoniker hat Paul Müller, der 2008 berufen wurde, einiges erlebt. Ende Oktober 2024 hört Müller auf. Zeit für eine Bilanz.

Paul Müller, Intendant der Münchner Philharmoniker | Bildquelle: © Tobias Hase

Bildquelle: © Tobias Hase

BR-KLASSIK: Herr Müller, Sie mussten einige Krisen bewältigen. Mit welchem Gefühl schauen Sie zurück? 

Paul Müller: Mit sehr bewegten Gefühlen und summa summarum sehr positiv. Ich war ja vorher sechs Jahre in Bamberg Intendant, davor beim NDR-Symphonieorchester und in Frankfurt an der Oder. Und gelernt habe ich meinen Beruf in Los Angeles bei dem legendären Intendanten Ernest Fleischmann. Das ist eine Laufbahn gewesen, die mich unglaublich geprägt hat.  

Ein junger Cellist wird Kulturmanager

BR-KLASSIK: Tolle Karriere eigentlich. Wenn man Kulturmanagement machen möchte - was kann man sich mehr wünschen?   

Paul Müller: Wenn Sie das sagen – danke schön! Die Musik ist immer mein Lebensmotto gewesen. Alles, was ich getan habe als Manager, war Folge dieser Leidenschaft.  

BR-KLASSIK: Sie haben ja mal Cello studiert.  

Paul Müller: Genau, und Schulmusik. Und dann kam mein schönstes Konzert. Es war kurz vor meinem dreißigsten Geburtstag im Rachmaninow-Saal des Moskauer Konservatoriums. Eine große Ehre. Und dieses Konzert war so toll, dass ich nachher mit meinem Pianisten und drei sehr guten Freunden Wein getrunken habe. Und um Punkt Mitternacht fiel der Entschluss, dass damit meine professionelle Tätigkeit als Cellist beendet ist. Das war eine sehr glückliche Entscheidung in einem Moment, wo mir klar war, was geht, aber ebenso klar, was nicht geht. Das Berufsleben stand ja quasi noch vor mir. Man soll aufhören, wenn es am schönsten ist.  

Schwierige Zeiten mit Putin-Freund Valery Gergiev

Valery Gergiev | Bildquelle: Alexander Shapunov Valery Gergiev | Bildquelle: Alexander Shapunov BR-KLASSIK: Dann gehen wir doch gleich an den interessantesten Punkt, nämlich zu Valery Gergiev. Sie haben ihn zusammen mit dem Orchester und der Stadt München geholt. 2015 gab er sein Einstandskonzert. Ich habe davor ein Interview mit ihm gemacht und wollte über Mahler reden. Aber er kam auf Politik, raunte über die damaligen Flüchtlingsströme. Dann, ohne rechten Zusammenhang, meinte er: “Die Ukraine ist eine Katastrophe”. Im Jahr zuvor hatte Putin die Krim besetzen lassen. Gergiev meinte natürlich, es sei eine Katastrophe, dass sich die Ukraine von Russland abgewandt hätte. Und dann sagte er noch, dass ein dritter Weltkrieg droht. Dass Gergiev ein bedingungsloser Putin-Unterstützer ist, hat er von Anfang an ganz offen gezeigt. Ich hatte ihn nicht mal drauf angesprochen. Warum haben Sie ihn geholt? 

Paul Müller: Bitte lassen Sie mich einen Satz vorwegschicken. Hätte Valery Gergiev nicht diese Haltung gehabt - und er hat sie immer noch -, dann wäre er vielleicht heute noch Chefdirigent der Münchner Philharmoniker. 

BR-KLASSIK: Sie haben ihn ja kurz vor dem Krieg noch verlängern lassen.

Paul Müller: Genau, sein Vertrag ist bis 2025 verlängert worden. Dieses ist dann anders gekommen durch den Überfall auf die Ukraine. Natürlich hat die Stadt München, haben die Münchener Philharmoniker einen großartigen Musiker verloren. Und ich füge hinzu: Auch ich habe damals einen engen Freund verloren. Das Musikalische steht auf der einen Seite, auf der anderen diese politischen Dinge. Die sind sehr schwierig und komplex zu beurteilen. Ich habe mit Valery Gergiev zu diesen politischen Dingen mit einer enormen Distanz gearbeitet. Wir hatten vieles vor hier in München, was wir mit dem Orchester erreichen wollten. Und man darf eines hinzufügen, was die wesentliche Grundlage auch dieses Handels war: Es gab eine politische Übereinkunft, eine gemeinschaftliche in diesem Land. Nämlich: Solange wir die Türen zu Russland offen halten können, werden wir das tun. 

BR-KLASSIK: Es gab ja Versuche, Gergiev einzuhegen. Zum Beispiel, als er die Gesetze, mit denen das Putin-Regime homosexuelle Menschen diskriminiert, öffentlich gelobt hat. Was selbstverständlich viele Menschen in München aufgebracht hat. Da mussten Sie ihn sozusagen bitten, das doch nicht so laut zu sagen. Also Ihnen muss klar gewesen sein, dass der Mann, wie man sagt, eine “loose canon” ist, eine lose Kanone, die über das Schiffsdeck schlingert. Zu solchen politischen Statements, die mit unserer freiheitlichen Vorstellung von Demokratie schwer zu vereinbaren sind, ist er ja nicht gedrängt worden. Er kam damit von sich aus.  

Paul Müller: In den Zusammenhängen, wo genau dieses passiert ist, haben wir mit ihm sofort darüber gesprochen und ihm gesagt, dass dieses so nicht passieren darf. Daraufhin ist in den wenigen Zusammenhängen, die wir erlebt haben, Ruhe gewesen, und es ist nichts weiter erfolgt. Das war die Bedingung, und das ist eingehalten worden. Mit dem Jahr 2022 war dann eine vollkommen andere Realität, wo eben auch diese politische Vereinbarung logischerweise nicht mehr zu halten war.

Warum wurde so lange an Gergiev festgehalten?

BR-KLASSIK: Ist das nicht eine Selbsttäuschung gewesen, die Haltung: “Ach, wir können so schön mit ihm Musik machen! Und das mit der Politik, das halten wir unter der Decke”. Was illusorisch war. Sehen Sie das im Nachhinein als Fehler?  

Paul Müller: Nein, ich betrachte das nicht als einen Fehler. Im Nachhinein zu sagen, man hätte das sehen müssen - das kann richtig sein. Und ich sage nicht, dass es falsch ist. Aber wir haben auf einer Ebene gearbeitet und auf Grund einer Überzeugung, wo es so möglich war. Nochmal: Es gab einen politischen Konsens in diesem Land. 

Dieses Leben hat einen wesentlichen Grundsachverhalt, der darin besteht, dass es unterschiedliche Meinungen gibt.
Paul Müller

BR-KLASSIK: Naja, es wurde schon gestritten. Es gab von Seiten der FDP und der Grünen durchaus Kritik an der Art, wie mit Putin umgegangen wurde. Und Gergiev war und ist ja sozusagen ein Putin-Ultra. Er hat die Musik für politische Demonstrationen missbraucht. Etwa indem er 2008 im Kaukasuskrieg dieses berüchtigte Konzert zwischen den Ruinen der Hauptstadt von Südossetien gegeben hat. Oder 2016 in Palmyra - also an Orten, wo die russische Armee im Auftrag von Putin kriegerische Verwüstungen angerichtet hat. Wenn ein Dirigent dort Sieges-Konzerte abhält, dann ist der ja nicht nur so ein bisschen mitgeschwommen, sondern ein Frontmann des Regimes. 

Paul Müller: Man kann immer zu anderen Bewertungen kommen. Und dieses Leben hat einen wesentlichen Grundsachverhalt, der darin besteht, dass es unterschiedliche Meinungen gibt, auch zu diesem Phänomen. Und ich verstehe sie sehr gut. Keine Frage. Trotzdem bleibe ich bei dieser Haltung bis 2022. 

BR-KLASSIK: Bis dahin war alles okay?  

Paul Müller: Nein, es war nicht alles okay, das habe ich nicht gesagt. Es ging darum, welche Konsequenzen man daraus zieht und wie man damit umgeht.  

BR-KLASSIK: Auch hinsichtlich der musikalischen Erfolge gibt es natürlich unterschiedliche Meinungen, aber ein großer Könner ist Gergiev ja zweifellos. Also die Freude an der guten Musik hat die ganzen Bauchschmerzen, die Sie ja hatten, aufgewogen? 

Paul Müller: Nachdem wir mit ihm gesprochen haben, und das ist sehr eindringlich und immer mit dem Kulturreferenten passiert, ist nichts mehr vorgefallen.  

BR-KLASSIK: Es heißt ja, dass er keine Abfindung von der Stadt München bekommen hat. Ist das richtig?  

Paul Müller: Das ist eine vertragliche Angelegenheit, die gehört nicht in die Öffentlichkeit, und ich glaube, ich finde da Verständnis  

Problemfeld Gasteig-Sanierung

BR-KLASSIK: In den letzten Jahren, und darin hat sich Gergiev sehr engagiert, hatten die Münchner Philharmoniker eine schwierige Aufgabe zu bewältigen: den Umzug in die Isarphilharmonie. Der Gasteig muss saniert werden. Die Isarphilharmonie wurde als Interim glanzvoll eröffnet, Kostenrahmen und Zeitplan eingehalten. Aber die Stadt hat es nicht geschafft, endlich damit anzufangen, was Zweck des Ganzen ist, nämlich die Sanierung des Gasteigs. Sind Sie wütend? 

Paul Müller: Ich bin nicht wütend. Das Ganze ist ein hochkomplexer Prozess. Dass da gewisse Verzögerungen eingetreten sind, das kann man wirklich nicht als positiv beschreiben, ja. Gleichzeitig ist der Prozess jetzt wieder an einer Stelle, wo ich daran glaube, dass die Maßnahme umgesetzt wird, dass der politische Wille geschlossen da ist. Und dass man auch eine Konstruktion gefunden hat dafür, indem man das nach außen verlagert, in eine stadteigene Gesellschaft mit einem bemerkenswerten Zweiten Geschäftsführer Benedikt Schwering, der dieses Interim HP 8 eigentlich gebaut hat. Das sind für mich Zeichen der Zeit, die stimmen mich positiv. Aber es dauert, ja. 

BR-KLASSIK: Sie sind Berufsoptimist. Aber gewähren Sie uns doch trotzdem einen Blick in Ihre Seele: Dass das alles sich so lange hinschleppt, während die Kosten explodieren und x-mal wird alles wieder in Frage gestellt, ist das nicht deprimierend? 

Lahav Shani dirigiert die Münchner Philharmoniker am 21. September 2022 | Bildquelle: Tobias Hase Lahav Shani | Bildquelle: Tobias Hase Paul Müller: Sagen wir so: Wir alle haben nun genügend beobachtet, wie kompliziert Konzertsaal-Fragen bezüglich der Errichtung sind. Wirklich ein Lied ohne Worte und manchmal auch ohne Ende. Insofern war ich immer totaler Realist. Mir war immer klar: Diese Isarphilharmonie, die muss so gut sein, dass sie auch länger hält als fünf Jahre. Leider habe ich in dieser Einschätzung nicht Unrecht behalten. Und dass die Isarphilharmonie so gut ist, ist einfach ein Garant dafür, dass alles gut gehen wird. Ohne das würde ich ein großes Problem sehen.  

Blick zurück auf Lorin Maazel

BR-KLASSIK: Ihr Haus ist ist bestellt. Der neue Chefdirigent Lahav Shani hat seinen Vertrag unterschrieben. Er ist schon jetzt als designierter Chef viel vor Ort, und es gibt positive Kritiken, man spürt Aufbruchsgeist. Die Auslastung ist hervorragend, das Publikum hat sich verjüngt. Aber es gab ja noch andere Krisen. Etwa mit Christian Thielemann, mit dem es den berühmten Krach gab. Und Lorin Maazel ist danach während seiner Amtszeit verstorben 

Paul Müller: Das war ein Schock. Und es war ein Riesenglück, dass wir, nachdem diese Nichtverlängerung mit Christian Thielemann entschieden war, Lorin Maazel so kurzfristig an uns binden konnten. Und er hat für dieses Orchester viel mehr getan, als das vielleicht auch gewertschätzt wurde. 

BR-KLASSIK: Indem er den Klang nach vorne gebracht hat?  

Paul Müller: Er war ein großer Orchestererzieher. Der Klang war ein Bereich, aber es war vor allen Dingen ein vollkommen neues Repertoire in großer Geschwindigkeit. Diese Dinge sind ja alle beim BR bestens bekannt...  

Wenn Lorin jetzt von oben herunterschauen könnte und sehen würde, was hier gerade los ist – der würde doch nur den Kopf schütteln.
Paul Müller

BR-KLASSIK: ...Maazel war ja zuvor langjähriger Chefdirigent beim BRSO. Und er hat die Musikerinnen und Musiker schlichtweg zum Üben gezwungen. Er konnte hervorragend schlagen und hat relativ wenig geprobt. Alle waren aufgeregt und haben wie wild zu Hause geübt. Im Konzert hatte Maazel so eine klare Zeichengebung, dass es funktionierte. Und so hat sich unser Orchester technisch nach vorne bewegt. Das war sein Rezept. 

Paul Müller: Ja, auch die Philharmoniker haben sich nach vorne bewegt, technisch. Und Maazel hat den Kontakt zum Münchener Publikum gefunden. Das war die andere Herausforderung.  

BR-KLASSIK: Er war ja bestens bekannt, weil er vorher beim BR war.  

Dirigent Lorin Maazel. | Bildquelle: BR/Foto Sessner Lorin Maazel | Bildquelle: BR/Foto Sessner Paul Müller: Genau, und wir sind mit ihm international sehr viel unterwegs gewesen, vor allem in China. Und auch persönlich habe ich sehr viele Stunden mit ihm in meiner Freizeit verbracht. Die Familie lebte in Virginia, die waren weit weg. Er hatte viel Zeit, die er mit mir verbracht hat. Und es war für mich eine unglaublich große Ehre. Klar, das ist einer der absolut genialsten Dirigenten gewesen. Dessen Bildung, dessen Möglichkeiten, mit seinem Kopf zu agieren, dessen Auffassungsgabe, dessen tiefe humane Überzeugung von Internationalität - das muss man sich heute sehr genau anhören. Ich sage Ihnen, wenn Lorin jetzt von oben herunterschauen könnte und sehen würde, was hier gerade los ist – der würde doch nur den Kopf schütteln. Ich habe größte Wertschätzung für ihn.  

Konflikt um Machtfragen mit Christian Thielemann

BR-KLASSIK: Herr Müller, über einen weiteren ehemaligen Chefdirigenten müssen wir reden, nämlich Christian Thielemann. Mit dem gab es ein Gewitter. 2009 war eigentlich seine Vertragsverlängerung schon so gut wie ausgehandelt. Aber dann entspann sich ein Streit zwischen Teilen des Orchestervorstands und dem Chefdirigenten. Damit waren auch Sie und der Kulturreferent an diesem Konflikt beteiligt. Da ging es unter anderem um die Frage: Wer entscheidet über Engagements von Gastdirigenten? Also es ging um Machtfragen. Und da war Christian Thielemanns Aussage: Es könne nicht angehen, dass er überstimmt wird vom Orchestervorstand und dem Intendanten. “Wo Chef draufsteht, muss auch Chef drin sein.” Und als sich das nicht klären ließ, hat Thielemann einen Vertrag in Dresden unterschrieben. Wilde Zeiten, oder? 

Christian Thielemann | Bildquelle: © Matthias Creutziger Christian Thielemann | Bildquelle: © Matthias Creutziger Paul Müller: Das waren ziemlich wilde Zeiten. Zumal ich nach München zu den Philharmonikern gekommen und berufen worden bin, um mit Christian Thielemann zusammenzuarbeiten. Das war der Sinn der Übung. Wir kannten uns vorher nicht. Wir haben uns ein paar Mal in Berlin getroffen und die Verständigung war sehr gut. Was dann passierte, ist auch wieder ein hochkomplexer Vorgang. Die Dinge, die Sie angesprochen haben, sind alle richtig. Aber das Gesamtbild in seiner Komplexität darzustellen, das ist nicht möglich. Letztendlich geht es dabei um vertragliche Dinge, und die werden backstage geregelt und nicht on stage gerichtet.  

BR-KLASSIK: Vertragliche Dinge, die mit menschlichen Dingen interferieren. Da gibt es ja eine Wechselwirkung. Es geht um Kunst, es geht darum, wertgeschätzt zu werden. Und wir haben Egos auf beiden Seiten. Also ganz so mechanisch kann man es nicht sehen. Oder?  

Paul Müller: Nein. Aber auch Verträge sind nicht so mechanisch, weil die genau diese Flexibilität in sich tragen müssen, dass man solche Dinge gegeneinander abwägen kann. Ich war traurig über diese Entwicklung. Aber am Ende war das nicht meine, sondern eine politische Entscheidung. Meine Aufgabe war dann, dafür zu sorgen, wie das Ganze weitergeht. Das habe ich getan. Darauf habe ich mich konzentriert. 

BR-KLASSIK: Haben Sie für den Verbleib von Thielemann gekämpft?

Paul Müller: Das war ab einem bestimmten Punkt natürlich nicht mehr möglich. Weil bestimmte Sachverhalte nicht geklärt werden konnten und politisch anders entschieden wurden.   

BR-KLASSIK: Mussten Sie sich entscheiden, entweder mit dem Orchestervorstand in Konflikt zu gehen oder mit dem Chefdirigenten? 

Paul Müller: Nein, ich habe bin dazu immer meine eigene Haltung gehabt. Und natürlich, wenn die Politik anders entschieden hätte und gesagt hätte: “Müller, no way!,” dann wäre das no way gewesen. Das hätte ich akzeptiert. Aber das Votum der Politik war ein anderes, und ich glaube, das war auch sehr wohlüberlegt 

BR-KLASSIK: Dienstherr der Philharmoniker ist die Stadt München. Die hat entschieden? 

Paul Müller: Und mit meiner Überzeugung dann auch ich. Irgendwann war ich an dem Punkt angekommen. Es gab immer eine klare Haltung von mir zu dem ganzen Sachverhalt. Und das Gute bei solchen komplexen Momenten ist: Schauen Sie, was davon geblieben ist. Die haben sieben wunderbare Jahre zusammen gehabt. Da sind musikalische Ergebnisse entstanden! Ich erinnere nur an den Rosenkavalier oder Elektra in Baden-Baden. Die sind unwiederbringlich, weil die klangliche DNA von Thielemann und den Münchener Philharmonikern zu 100 Prozent übereinstimmt.  

BR-KLASSIK: Damals hat Ihnen Thielemann vorgeworfen, Sie hätten nichts gesagt, Sie hätten sich zu sehr rausgehalten.  

Paul Müller: Das kann er mir vorwerfen. Ich habe mich getreu meiner eigenen Überzeugung 100 Prozent verhalten.  

BR-KLASSIK: Haben Sie noch Kontakt mit ihm?  

Paul Müller: Nein, ich habe leider keinen Kontakt mit ihm. Aber das kann ich auch nachvollziehen. Bestimmte Dinge sind, wie sie sind. Und da finde ich, sollte man dann seinen Frieden machen.  

BR-KLASSIK: Hat das Orchester hat Kontakt? 

Paul Müller: Der Vorstand hat Kontakt zu ihm. Also, das wird alles gepflegt.  

Wann kommt Thielemann als Gast zu den Philharmonikern?

BR-KLASSIK: Kommt er mal wieder? 

Paul Müller: Es gab eine konkrete Planung, ja, die hätte jetzt stattfinden sollen. Durch die Entwicklungen in Berlin hat sich das wieder verändert. Das ist aber vollkommen normal.  

BR-KLASSIK: Das muss Ihr Nachfolger dann regeln, dass er doch mal kommt.  

Paul Müller: Und die Kolleginnen und Kollegen vom Orchestervorstand sind da extrem aktiv.  

BR-KLASSIK: Jetzt bin ich natürlich auch neugierig: Hatten Sie Kontakt mit Valery Gergiev nach dem nach der Entlassung?  

Paul Müller: Nein, ich habe keinen Kontakt zu ihm, und das aus Überzeugung. Da ist etwas passiert, was einen klaren Schlusspunkt unter die Geschichte mit Valery Gergiev gesetzt hat. Und dieser Punkt ist für mich absolut.  

Kunst braucht Brüche. Etwas, was sie permanent unter Energie hält. Das heißt auch Auseinandersetzung.
Paul Müller

BR-KLASSIK: Als Intendant und Manager sitzt man ja zwischen vielen Stühlen. So ein Orchester hat ein enormes Sendungs- und Selbstbewusstsein. Der Vorstand ist machtbewusst. Dann gibt es die Stadt, mal hat man Kulturreferenten, die kunstaffin sind, mal kommen sie eher von der Politik. Der Referent muss es dann seinem Oberbürgermeister und den Fraktionen erklären, die noch weiter weg sind von der Musik. Dann hat man ein Publikum, und dann gibt es ja auch noch den Chefdirigenten. Oder man hat vielleicht auch mal zwei Konzertmeister, die nicht miteinander können. Dann sagt der eine Konzertmeister: Wenn die spielt, dann bin ich nicht neben ihr. Eigentlich ist man permanent am Feuerlöschen und immer in einer Konfliktzone in so einer Position. Oder?   

Paul Müller: Ja, die Frage kann man nur eindeutig beantworten. Ich fange mal jetzt an einem anderen Punkt an. Meine tiefe Überzeugung ist, und die hat sich gesteigert: Kunst braucht Brüche. Das heißt, wir müssen nicht solche Brüche inszenieren, wie wir sie heute besprochen haben. Das ist nicht die Forderung. Aber wir brauchen in dem System Kunst etwas, was sie permanent unter Energie hält. Das heißt auch Auseinandersetzung. Das kann auch Konflikt bedeuten. Die Frage ist, wie man damit umgeht und wie man ihn löst. Das ist immer meine Überzeugung gewesen. 

BR-KLASSIK: Also diese ganzen, teilweise stressigen, teilweise teuren, teilweise mit riesiger Frustration begleiteten Dinge, von denen wir auch gesprochen haben, waren Ihrer Meinung nach nicht nur schlecht?  

Paul Müller: Ich würde sie nicht bewerten wollen mit schlecht oder gut. Aber es gibt mehrere Möglichkeiten, auf Krisen zu reagieren. Die eine ist: Sie kriegen ein schlechtes Resultat. Die zweite ist: Sie haben überhaupt keine Wirkung, auch nicht gut. Die dritte ist, dass etwas Positives durch Krisen entstehen kann. Und wenn ich das sagen darf: Das ist den Münchener Philharmonikern gelungen. Und es gab es so früh die Rede davon: Wir brauchen eine junge Dirigentin. Ja, aber die Zeit muss reif sein. Ein Orchester ist ein mental sehr kompliziertes Gebilde. Und jetzt war die Zeit reif für einen jungen Dirigenten, aus welchen Gründen auch immer.  

Mehr Frauen am Pult werden normal

BR-KLASSIK: Sie haben früher und viel öfter als andere Münchner Spitzenorchester tolle Dirigentinnen geholt. Gab es sanften Druck von der Stadt, mehr Frauen ans Pult zu holen?  

Paul Müller: Nein, da hat es nie irgendwelchen Druck gegeben. Und wir haben diese Einladungen nach rein künstlerischer Überzeugung ausgesprochen. Es kamen immer mehr Dirigentinnen, die interessant waren. In den letzten Spielzeiten immer zwischen vier und sechs Frauen. Und man sieht ja, was jetzt passiert. Gerade war Karina Canellakis wieder da, und es war einfach total phänomenal. Eine Beethoven Fünf, wo ich nur sagen kann: Ja, das will ich genauso heute hören.  

BR-KLASSIK: Herr Müller, Sie haben viel erlebt. Es gibt ja Stimmen, die sagen: “Das mit der klassischen Musik und der staatlichen Finanzierung und dem jungen Publikum, das geht alles den Bach runter.” Wie sehen Sie die Zukunft?  

Karina Canellakis | Bildquelle: © Eduardus Lee Karina Canellakis | Bildquelle: © Eduardus Lee Paul Müller: Ich sehe die Zukunft positiv mit großen Herausforderungen. In der Isarphilharmonie ist es uns seit 2022 gelungen, mit einer veränderten Programmpolitik, die wesentlich weiter in die Gegenwart geht, ein ganz anderes Publikum zu ziehen. Wir haben Dinge gelernt, die nicht nur für dieses andere Publikum, sondern auch für unsere Abonnenten wichtig sind. Die sind zurückgekommen. Die mussten ihre Angst überwinden. Das war nach Corona nicht einfach. Ich glaube, jeder hat das an eigenem Leibe erlebt. Und gelungen ist das, weil diese Halle eine enorme Intimität bietet. Auch eine akustische Intimität. Sie bietet etwas, was für die jungen Leute entscheidend ist: Es gibt eine akustische Resonanz, eine körperliche Resonanz, die dieser Saal verursacht. Wie bei Rockmusik. Das ist das, was die Jüngeren gewohnt sind, was sie kennen und brauchen. Wir haben zwischen 93 und 95 % Auslastung. Also dieses Argument, dass die klassische Musik große Probleme hat oder geschweige denn stirbt, dazu kann ich nur sagen: Man muss die richtigen Antworten auf die Herausforderungen finden. Das ist wahr. Und solange das der Fall ist, bin ich auch sicher, dass die Stadtpolitik in München dieses Orchester unterstützen wird.  

Sendung: "Meine Musik" am 12.10.2024 um 11:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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