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Kritik – "Boris Godunow" in Innsbruck Ohne Scheu vor Pathos

Modest Mussorgskys Zaren-Drama in der Urfassung von 1869 am Tiroler Landestheater: Das erwies sich in der Inszenierung des US-Regisseurs Thaddeus Strassberger als so aufwühlend wie aktuell, und zwar ganz ohne aufdringliche Putin-Vergleiche.

Bildquelle: Birgit Gufler

Kritik

"Boris Godunow" in Innsbruck

Russen lieben das Pathos, na klar, aber was heißt das eigentlich? Sie sind gern und schnell von sich selbst ergriffen, sie betonen es sogar andauernd, wie der russische Präsident Wladimir Putin. Allzu oft lässt er den Westen bei seinen öffentlichen Auftritten wissen, dass er alles wirklich ernst meint. Das könnte sogar stimmen, doch er weiß genau, dass diese Art feierliche Selbstergriffenheit, dieses Pathos, in aufgeklärten Staaten als albern und propagandistisch, gelegentlich auch als Drohung wahrgenommen wird. Ein Missverständnis, dass nicht nur die Politik überschattet, sondern auch den Kulturaustausch.

Kein forcierter Gegenwartsbezug ...

Die meisten russischen Opern zum Beispiel sind durchweg pathetisch, sie vertragen keinerlei Ironie, sie wollen absolut ernst genommen werden. Und selbst dann, wenn es sich um Satiren handelt, wirken sie eher grimmig als augenzwinkernd. Insofern hat der amerikanische Regisseur Thaddeus Strassberger am Tiroler Landestheater in Innsbruck wirklich alles richtig gemacht bei seiner Inszenierung von Modest Mussorgskys düsterem Zaren-Drama "Boris Godunow". Er nahm es ernst, er scheute sich nicht vor dem Pathos. Der eher höfliche Beifall am Ende zeigte, dass das Publikum doch etwas befremdet war über so viel russische Selbstergriffenheit, über fromme Volksmassen, hinterhältige Oligarchen, korrupte Polizisten, versoffene Mönche, verblendete Machthaber – aber sich über all das lustig zu machen, wäre eindeutig unpassend gewesen.

Klicktipp – "Die letzte Verschwörung" in Wien

Am Samstag ging an der Volksoper die welterste Mythos-Operette über die Bühne. In "Die letzte Verschwörung" nimmt Komponist und Librettist Moritz Eggert einige Verschwörungsidiotien aufs Korn. Und das ziemlich unterhaltsam. Lesen Sie hier unsere Kritik.

Boris Godunow in Innsbruck | Bildquelle: Birgit Gufler Szene aus Mussorgskys "Boris Godunow" am Tiroler Landestheater Innsbruck | Bildquelle: Birgit Gufler Titelheld Boris Godunow regierte Russland vor etwa 400 Jahren, in der sogenannten "Zeit der Wirren", als im Kreml ziemliche Unordnung herrschte und nicht immer klar war, wer gerade das Sagen hatte. Diese politische Unübersichtlichkeit sehen nicht wenige Fachleute auch derzeit wieder heraufziehen, sprechen von einer neuen "Zeit der Wirren", die Putin mit seinem Angriff auf die Ukraine eingeleitet habe. Es wäre also ein Leichtes gewesen, die Bilder entsprechend zu aktualisieren, womöglich Putin persönlich als Zar auftreten zu lassen. Gut, dass Thaddeus Strassberger auf diese Art Ironie verzichtete und als sein eigener Ausstatter auf bildstarke, zeitlose Russland-Symbole setzte: Die goldenen Kuppeln der Maria-Verkündigungs-Kathedrale im Kreml blinken hinter einer massiven Betonmauer, die das Volk draußen halten. Es wird wie im Käfig gehalten und hat sich mit seiner zynischen Unterwürfigkeit wohlig eingerichtet: Auch der Hass auf die Mächtigen ist ernst gemeint.

... trotzdem passt "Boris Godunow" gut in unsere Zeit

Doch jede Mauer hat eine Rückseite, und die ist hier prächtig vergoldet. Die Drehbühne gibt also mal den Blick auf die Innenseite der Macht frei, mal auf die Außenseite. Dieser ständige Wechsel macht was her, viele Szenen gelingen aufwühlend, vor allem deshalb, weil sie das Pathos der Übertitel perfekt verstärken: Russland stöhne unter der Rechtlosigkeit, heißt es bei Mussorgsky 1869, und es gelte Gott anzuflehen, dass das bald enden möge. Im Grunde passt "Boris Godunow" über den Aufstieg und Fall eines Diktators viel eher zur Gegenwart als Prokofjews "Krieg und Frieden", eine Oper, die mit ihrem nationalistischen Furor kürzlich an der Bayerischen Staatsoper in München für widersprüchliche Reaktionen sorgte.

Dirigent Oliver von Dohnányi legte viel Herzblut in seine Interpretation, scheute also ebenfalls kein Pathos. Dasselbe galt für den viel beschäftigten Chor und die 14 Solisten, allen voran der bulgarische Bass Ivo Stanchev in der Titelrolle und der polnische Tenor Łukasz Załęski als intriganter Fürst Schuiski. Insgesamt ein Opernabend, der in jeder Hinsicht bewies, wie fremd uns Russland schon immer war - und nicht etwa geworden ist.

Sendung: "Allegro" am 27. März ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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