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Kritik – Überirdisch Thielemann dirigert Bruckner und Brahms in Salzburg

2024 ist Bruckner-Jahr. Anlass für Christian Thielemann, den gesamten Bruckner-Zyklus aufzuführen und aufzunehmen. Mit der unvollendeten Neunten Symphonie bei den Salzburger Festspielen ist er jetzt etwa bei der Halbzeit – und wird frenetisch gefeiert.

Bildquelle: © Matthias Creutziger

Salzburger Festspiele

Thielemann und die Wiener Philharmoniker mit Bruckner

Ein Staccato wild hämmernder Rhythmen haut uns Anton Bruckner im Scherzo seiner Neunten Symphonie um die Ohren – das heraufziehende Maschinenzeitalter zeigt seine grimmige Fratze. Mit vollem Körpereinsatz animiert Christian Thielemann die Wiener Philharmoniker, "sein" Bruckner-Orchester, zu vehementer Attacke. Aber die können auch anders, wie sie im duftigen Trio dieses herben Scherzos zeigen, das – ganz Mendelssohn-like – wie ein Elfenspuk vorüberhuscht. Mitten im Getümmel findet Bruckner herzbewegende Melodien, die von den samtigen Streichern der Wiener innig ausmusiziert werden.

Elīna Garanča singt "Alt-Rhapsodie" von Brahms – wunderbar

Elīna Garanča | Bildquelle: Christoph Köstlin Der wunderbaren Elīna Garanča mit Brahms' "Alt-Rhapsodie", hätte man gerne länger zugehört. | Bildquelle: Christoph Köstlin Schade, dass die zuvor gespielte "Alt-Rhapsodie" von Johannes Brahms nur so kurz dauert – gerne hätte man der wunderbaren Mezzosopranistin Elīna Garanča länger zugehört. Mit der flutenden Fülle ihres kostbaren Timbres, ihrer gutturalen Tiefe und ihrer Gestaltungskraft durchlitt Garanča die Schmerzen des einsamen Wanderers, bevor sie sich mit einem Männerchor zum finalen Gebet vereinte. In seiner Gesangsszene nach Strophen aus Goethes "Harzreise im Winter" hatte Brahms die unglückliche Liebe zu einer Schumann-Tochter verarbeitet. Brahms und Bruckner waren sich nicht grün. Und doch taugte die "Alt-Rhapsodie" mit ihrem dunkel grundierten Klang und ihrem symphonischen Charakter gut als Vorspiel zu Bruckners unvollendetem Vermächtnis.

Thielemann dirigiert auswendig

Christian Thielemann dirigiert das kolossale Fragment auswendig, immer die weiträumige Architektur Bruckners im Blick, ohne sich in Details zu verlieren. Ja, dieses letzte Werk, das Bruckner etwas hilflos am Ende seines Lebens "Dem lieben Gott" gewidmet hat, ist eine produktive Zumutung. Vor allem der weitverzweigte Kopfsatz, der durch die Wucht seiner Themenblöcke und deren Zertrümmerung verstört, kann auch ein heutiges Publikum noch überfordern.

Ein weich abgerundeter, sämiger Bruckner-Klang

Thielemann nimmt das alles angenehm fließend, wobei er mit dem Tempo sehr frei umgeht. Immer folgt er den weitgespannten Phrasen Bruckners. Die Ecken und Kanten dieser Musik zu betonen, ist seine Sache eher nicht. Er liebt den weich abgerundeten, sämigen Bruckner-Klang, wie ihn die Wiener Philharmoniker in Reinkultur verkörpern. Das gilt auch für die harmonischen Exzesse im finalen Adagio, wo Bruckner schrille Dissonanzen auftürmt, dass einem Hören und Sehen vergeht.

Schlusssatz überirdisch schön

Damit hat Bruckner das Tor zur Zukunft aufgestoßen. Nach diesem schockierenden Blick in die Hölle findet er in einem langen Abgesang dann doch noch seinen Frieden. "Abschied vom Leben" hat Bruckner über eine choralartige Passage dieses Adagios geschrieben, das seine Neunte Symphonie beschließt – der Schlusssatz kam über Skizzen nicht hinaus. Thielemann musiziert das mit den Wiener Philharmonikern überirdisch schön aus, Holzbläser, Hornisten und Wagner-Tubisten leisten Großes, die Trompeter hatten einen eher schlechten Tag. Nicht alles gerät hundertprozentig präzise, was bei Thielemanns exaltiertem Dirigierstil kein Wunder ist. Es ist der überspringende Musiziergeist, für den er am Ende vom Festspiel-Publikum frenetisch gefeiert wird.

Sendung: "Allegro" am 29. Juli 2022 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (4)

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Samstag, 30.Juli, 22:35 Uhr

Wilfried Schneider

Thielemanns "Anmaßung"

Ach, Herr Schäfer, ich weiß ja. dass es zum "guten Ton" gehört, den Herrn Thielemann anzugiften und ihm allerlei Bösartigkeiten zu unterstellen. Aber offenbar hat es sich bis zu Ihnen noch nicht herumgesprochen: ES GIBT KEINEN 4. SATZ der 9. Sinfonie Bruckners!! Es gibt Skizzen und Entwürfe, leider starb Bruckner aber, bevor er das Finale vollenden konnte. Vor kurzem hat Thielemann in der Semperoper das "Te Deum" attacca angefügt, was er wohl nicht als sonderlich zufriedenstellend empfand, wenn ich seine Äußerungen dazu richtig interpretiere.
Nun gab es immer wieder Versuche, Fragmente zu "vollenden" (z. B. Puccinis "Turandot", Bergs "Lulu" oder auch Mahlers "10." Sinfonie), aber das sind, falls man dem überhaupt etwas abgewinnen kann, hilflose Versuche, etwas zu Ende zu bringen, dessen Fertigstellung durch den Tod des Autors verhindert wurde. Ich empfinde derartige Versuche als ANMAßUNG. Ja, und dann ist da noch die künstliche "Intelligenz" und Beethovens "10."! Igitt!!

Samstag, 30.Juli, 09:00 Uhr

Peter Schäfer

RE

Kenne ich, danke ;)

Thielemann sagt ja, er will den 4. Satz der Neunten nicht spielen, weil er ihn kalt lässt und Bruckner ihn angeblich "nicht richtig hinbekommen" hat. Aber das ist doch anmaßend ggüber einem Komponisten, den man ansonsten auf einen Genie-Sockel stellt!?

Man sollte dem Publikum die Chance geben, sich dazu selbst eine Meinung zu bilden.

Freitag, 29.Juli, 16:32 Uhr

Livia Laios

Etwas hilflos "Dem lieben Gott" gewidmet???

Wie bitte? Diese Symphonie hat der gealterte Meister bewusst DEM geschenkt, der einzig Raum und Zeit überdauert. Das fehlende Finale hätte ja eine Fuge fast überirdischen Ausmaßes werden sollen - die hat Bruckner im Himmel fertiggeschrieben, ganz sicher.
Wie Sie, Herr Leipold, darauf kommen können, dass die Zuwendung zu Gott "hilflos" sei, bleibt Ihrer Weltanschauung überlassen. Bruckners Sicht war das nicht: Gott war für ihn völlig real, so real, dass er lieber unter den Füßen der Kirchenbesucher von St. Florian begraben sein wollte, da wo Gott in den Menschen am nächsten ist.
Die modische Sicht, dass Religion Ausdruck mangelnder Lebenskraft sei, muss man sich nicht zu eigen machen - das kann man auch ganz anders erfahren, wenn man es mit der Transzendenz ernst meint, nicht nur Dogmata nachspricht.
Bedenken Sie also, Herr Leipold, dass es Menschen gibt wie mich, die Bruckner als Gottesdienst hören, so wie Parsifal einer ist und die Christusoper Wagners im Himmel ein ewiger wurde.

Freitag, 29.Juli, 12:13 Uhr

Peter Schäfer

" harmonischen Exzesse im finalen Adagio "

Das wirkliche Finale wird ja selten gespielt. Echt ein Jammer.
Warum traut sich da keiner ran?

Es gibt - neben mehreren anderen Aufnahmen - eine Einspielung mit Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern (Warner/EMI), die auch das rekonstruierte Finale enthält.
(Anm. d. Red.)

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