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Kritik – Teodor Currentzis und Utopia in München Mahler, der unter die Haut geht

Politisch umstritten, künstlerisch gehypt: Der 52-jährige Pultstar Teodor Currentzis, gebürtiger Grieche mit russischem Pass, hat gleich zwei Orchester gegründet. Mit musicAeterna tritt er in Russland auf, mit Utopia seit 2022 im Westen. Derzeit sind Currentzis und Utopia mit Mahlers Fünfter unterwegs - so an Allerheiligen in der Münchner Isarphilharmonie.

Teodor Currentzis und Utopia | Bildquelle: Sébastien Grébille

Bildquelle: Sébastien Grébille

Zu Beginn ein raunender Paukenwirbel. Aus dem Urgrund schält sich schnarrend und schabend das Klangmagma in der brandneuen Passacaglia des Amerikaners Jay Schwartz heraus. Volume 9 aus seiner Serie "Music for Orchestra" hat Teodor Currentzis für sein Utopia-Orchester bei Schwartz in Auftrag gegeben und erst vor wenigen Tagen in Berlin uraufgeführt. Mit seinem filmmusikalischen Horrorpotenzial passte dieser Opener gut zur diabolischen Fünften Symphonie von Gustav Mahler.

Auftragswerk von Jay Schwartz zum Auftakt

Das schlicht gestrickte Stück von Schwartz lebt vor allem von stetig aufsteigenden Glissandi, also stufenlos gleitenden Tönen – wobei die Streicherlinien immer wieder mal auf tonalen Flächen und harmonischen Akkorden landen und dort haltmachen. Ein verblüffender Effekt, der manchmal an Bruckners Klangflächen erinnert. Von Schuberts intimer Liederwelt, auf die sich Schwartz nach eigener Aussage in seiner Passacaglia bezieht, sind höchstens im Untergrund harmonische Spuren geblieben. In einer großen Bogenform lässt Schwartz erst die Streicher, dann das Blech und schließlich die Percussion zu enormen Ballungen anschwellen, bevor er seine Komposition kosmisch im All verklingen lässt.

Mahler im Stehen

Teodor Currentzis und Utopia | Bildquelle: Sébastien Grébille Bildquelle: Sébastien Grébille Schon bei dieser Überwältigungsmusik reizt Teodor Currentzis das Dynamikspektrum extrem aus, von der Hörgrenze bis zum Exzess. Das gilt auch für seine atemberaubende Interpretation der Fünften Symphonie von Gustav Mahler. Mit bloßen Händen formt er den Klang von Utopia, mit seiner expressiv tänzelnden Körpersprache befeuert er sein riesenhaft besetztes Kollektiv – wie schon bei musicAeterna lässt er seine Musikerinnen und Musiker, bis auf Celli und Harfe natürlich, im Stehen spielen. Allein das ist schon eine nicht zu unterschätzende Leistung bei einem kräftezehrenden Monumentalwerk wie Mahlers Fünfter. Aber es schafft Freiheit für den einzelnen – und der Klang kann sich im Raum frei entfalten.

Currentzis, ein Mann mit Visionen

Es ist erstaunlich, wie es Currentzis gelungen ist, ein Projektorchester wie Utopia, das sich aus Profis weltweiter Spitzenorchester zusammensetzt, auf ein derartiges Niveau zu katapultieren. Utopia erweist sich als ungemein homogenes und flexibles Kollektiv, das auf kleinste Fingerzeige reagiert. Die harte Arbeit, die dahintersteckt, kann man nur erahnen. Ein gewisser Drill ist jederzeit spürbar, nicht nur beim gemeinsamen Verbeugen. Aber Currentzis ist eben ein Mann mit Visionen, der genau weiß, was er will. Jede Phrase, ja jeder Takt wirkt bei ihm perfekt durchgearbeitet, aber nie ausbuchstabiert. Dafür ist Currentzis viel zu sehr Musikant, Feuerkopf, Derwisch und Irrwisch.

Mahlers Welttheater als Drama

Faszinierend, wie genau – und so kaum je gehört – Currentzis den Charakter von Mahlers Musik trifft. Wie frei er mit den Binnentempi umgeht, mal ein Taktende lässig verschleppt, eine Phrase verschleift, wie er dann wieder Fahrt aufnimmt. Da ist das österreichisch-ungarische K.-u.-k.-Flair Mahlers zum Greifen nah. Schon im einleitenden Trauermarsch der Fünften schärft Currentzis die Kontraste und spitzt Mahlers Apokalypsen drastisch zu. Auf der anderen Seite wird da eine tiefe Melancholie spürbar, eine unstillbare Sehnsucht, ein Gefühl von Traumverlorenheit, wie sie Mahler umgetrieben haben. Mahlers Welttheater als Drama, das unter die Haut geht.

Hölle statt Erlösung

Katastrophische Züge arbeitet Currentzis auch im zweiten Satz heraus und nimmt hier Mahler beim Wort, der den Satz "Stürmisch bewegt, mit größter Vehemenz" gespielt haben wollte. Den Schlusschoral haut uns Currentzis gnadenlos um die Ohren – von Erlösung keine Spur, vielmehr tut sich die Hölle auf. Am Steg schabend, lassen die Streicher die Knochen knacken. Ganz aus dem Geist von Volksmusik – und darin wieder ganz nah an Mahler – begreift Currentzis das fratzenhafte Scherzo, irgendwo zwischen Beisl und Kirmes, Walzer- und Heurigenseligkeit. Für seinen hinreißenden Auftritt in diesem Totentanz verdient der fantastische Solohornist von Utopia ein Extralob.

Dieser Mahler lässt niemanden kalt

Und das zu Tode gerittene Adagietto? Nimmt Currentzis zunächst unglaublich zart und zerbrechlich, um dann – ohne den leisesten Anflug von Sentimentalität – zu einer leidenschaftlichen Intensität zu gelangen, die sprachlos macht. Rekordverdächtig langsam kostet er diesen fein ausgehörten Abgesang aus. Bevor dann im lärmigen Rondo-Finale alle Dämme brechen – und sich doch leichte Ermüdungserscheinungen bei Utopia bemerkbar machen. Insgesamt aber ist Currentzis eine Mahler-Deutung von außergewöhnlicher Dichte und Tiefe gelungen, die niemanden kalt lassen kann. Das Publikum in der Münchner Isarphilharmonie riss es jedenfalls von den Sitzen.

Sendung: "Piazza" am 2. November 2024 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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