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Komponist Michael Nyman zum 80. Geburtstag Der Alleskönner

"Das Piano" und "Der Kontrakt des Zeichners": Der Komponist Michael Nyman ist vielen vor allem wegen seinen Filmmusiken ein Begriff – dabei hat er Musiktheater, Game-Musik und sogar Songs für Ute Lemper geschrieben, ist auch Filmemacher, Fotograf, Publizist, Wissenschaftler und ein Wegbereiter der Elektromusik.

Michael Nyman | Bildquelle: picture alliance / empics | Matt Alexander

Bildquelle: picture alliance / empics | Matt Alexander

Er ist ein Komponist, der sich lange dem Komponieren verweigert hat – Michael Nyman fühlte die zeitgenössische Musik der frühen 1960er-Jahre einfach nicht. Damals während seiner Zeit als Klavierstudent am Londoner Kings College. Weder Serielles noch Atonalität waren seins. Die Musikwissenschaft, -geschichte und -theorie hingegen schon. Anstatt Musik zu schreiben, schreibt Michael Nyman also erstmal über Musik: wissenschaftliche und journalistische Texte, darunter 1974 das Buch "Experimental Music. Cage and Beyond".

Nymans Meilenstein: der Begriff "Minimal Music"

Und schon bald setzt er einen echten Meilenstein, als er eine neuartige Musikrichtung analysiert, für die Philipp Glass und Steve Reich stehen. Eine Musikrichtung aus ganz einfachen Melodiemustern, die sich wieder und wieder wiederholen und dabei nur leicht variiert werden. Nyman, so sagt eine zuverlässige Quelle – nämlich Steve Reich persönlich – sei es gewesen, der ihr ihren Namen gegeben hat: Minimal Music.

Rückkehr zur Komposition

Der Komponist Michael Nyman | Bildquelle: picture alliance/Geisler-Fotopress Der Komponist Michael Nyman wird am 23. März 2024 80 Jahre alt. | Bildquelle: picture alliance/Geisler-Fotopress Und diese Minimal Music war es, die ihn so faszinierte, dass aus dem Musikwissenschaftler und -historiker Michael Nyman auch wieder der Komponist Michael Nyman wird. Seine recht intensiven Auseinandersetzungen mit John Cage und den Minimalisten begründen sein kompositorisches Konzept, die "repetitive Musik". Er zitiert aus bestehenden Werken ein prägnantes Motiv, das er dann wiederholt, variiert und neu montiert. Somit hat Nyman eigentlich die Grundlagen der heutigen Elektromusik geschaffen.

Die wilden Siebziger: Die Michael Nyman Band

Als Nyman mit Bühnenmusiken ins Kompositionsgeschäft zurückkehrt, schreibt er für das National Theatre eine Schauspielmusik zu Carlo Goldonis "Il Campiello". Dabei kommt es zur Gründung der "Campiello Band", die bald die "Michael Nyman Band" wird. Eine Art Kammerorchester, das ihn über vier Jahrzehnte begleiten sollte, und in dem, passend zu Nymans musikgeschichtlichem Hintergrund, Instrumente aus verschiedenen Jahrhunderten zusammenspielen: Lyra, Klarinette und Banjo nebeneinander.

Die ersten Filme mit Greenaway: hochexperimentell

Schon 1967 schrieb Nyman zum ersten Mal Musik zu einem Film von Peter Greenaway ("5 Postcards from Capital Cities") – dem Regisseur, der Nymans Leben nachhaltig verändern sollte. Der erste Film, wie auch die Filme der 1970er, als sie ihre Zusammenarbeit wieder aufnehmen, ist hochexperimentell – und beide blieben diesem Stil bis in die 80er treu.

Peter Greenaway erlaubte mir, ich selbst zu sein.
Michael Nyman

Der Komponist Michael Nyman am Klavier | Bildquelle: © dpa Freund des Experimentellen: Michael Nyman am Klavier. | Bildquelle: © dpa Greenaway erzählt keine Geschichten, bei ihm prallen Bilder aufeinander. Und so wie Greenaway sich bildlich an allem bedient, was die europäische Kunstgeschichte zu bieten hat, so wie er Körper, Farben und Kunstwerke zu überladenen und anstößigen Bildcollagen kompiliert, kompiliert Nyman musikalische Patterns, also Versatzstücke aus der Musikgeschichte mit seiner Band zu Klangteppichen. Oft existierte die Musik vor dem Film, und Greenaway spielte sie am Set bei den Dreharbeiten zu, wie etwa bei "Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber" von 1989.

Der Durchbruch: "Der Kontrakt des Zeichners"

Der Durchbruch kommt, als Greenaway 1982 dann doch mal eine Geschichte erzählt, nämlich die eines Zeichners. Die Bilder prallen freilich immer noch aufeinander, ihrer visuellen und klanglichen Handschrift bleiben Greenaway und Nyman auch hier treu. Nyman lässt seine Band Versätzstücke aus Henry Purcells "The Fairy Queen" variieren, "ziemlich radikal als Filmmusik", erklärt er einmal, "denn die Musik entstand nicht aus dem Film, sondern aus mir heraus". Nymans Musik ist nie Begleitung, sondern immer Protagonistin.

Kritik an der repetitiven Musik

In den meisten Greenaway-Soundtracks nutzt Nyman Vorlagen aus der Musikgeschichte und unterzieht sie seinem repetitiven Verfahren: Die Musik von Heinrich Ignaz Franz Biber war seine Inspirationsquelle in "Die Verlobung des Monsieur Hire" (1989), für den Soundtrack zu "Die Verschwörung der Frauen" (1988) nahm er Mozarts Sinfonia Concertante KV 364 als Grundlage. Dafür erntete er Kritik – die Nyman unbegründet fand. "Einem Fotografen würde niemand vorwerfen, dass er etwas Bestehendes als Arbeitsgrundlage nimmt", sagte er. "Und in der Musik haben das alle Großen getan: Bach, Händel, Strawinsky und sogar Stockhausen".

Zerwürfnis mit Greenaway

19 Filme lang waren Peter Greenaway und Michael Nyman das Dreamteam, 1991 jedoch war es vorbei. Greenaway gefiel ein instrumentales Detail in Nymans Musik zu dessen bildgewaltiger Shakespeare-Adaption "Prosperos Bücher" nicht – und Nyman ärgerte sich über Greenaways Nachlässigkeit im Umgang mit Musik.

Michael Nymans größter Coup: "Das Piano"

Schon ein Jahr nach dem Streit mit Peter Greenaway landet Michael Nyman seinen größten Coup: die Musik zu Jane Campions "The Piano". Im Film über eine stumme Frau, deren einziges Ausdrucksmittel das Klavierspiel ist, ist die musikalische Basis ein schottisches Volkslied. Aber in diesem Soundtrack geht Nyman über Wiederholungen und Variationen hinaus: Das zentrale Stück ist eine eigenständige Komposition, die Nyman der Hauptdarstellerin Holly Hunter auf den Leib schrieb, so, dass sie sie beim Dreh selbst spielen konnte. Dieses Hauptthema ist eine Innenprojektion der Pianistin. Als ihr Sprachrohr wird die Musik selbst zu einem handelnden Charakter.

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The Heart Asks Pleasure First / The Promise (Edit) | Bildquelle: Michael Nyman - Topic (via YouTube)

The Heart Asks Pleasure First / The Promise (Edit)

Musikalische Vielfalt

Nymans Erfolg im Bereich Filmmusik hat mitunter davon abgelenkt, was er noch alles geschrieben hat: Chor- und Orchesterwerke, Klavier- und Kammermusik sowie Musiktheaterstücke, wie die Kammeroper "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte", Game-Musik, Musik für Modenschauen, einen Paul Celan-Liederabend für Ute Lemper …

Michael Nyman als visueller Künstler

Aber auch jenseits der Musik zeigt Nyman seinen Blick auf die Welt. Als Fotograf tourte er mit einer Ausstellung mit eigenen Fotografien um die Welt. Und Filmregisseur ist er auch: Vom Kurzfilm "Love, love, love" (1968), in dem zu Beatles-Songs das Thema Cannabis-Legalisierung verhandelt wird, über "NYman with a Movie Camera" (2010) bis hin zu "War Work, 8 Songs with Film" (2014), einem filmischen Mahnmal zum 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges, mit collagierten Nachrichtenbildern und acht selbstkomponierten Liedern.

Am 23. März 2024 feiert er nun seinen 80. Geburtstag: der Filmemacher, Fotograf, Publizist, Wissenschaftler und Komponist Michael Nyman – eine der wichtigsten Personen der Kunstgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts. 

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