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Don-Juan-Syndrom Was Mozarts Don Giovanni mit Ghosting zu tun hat

Don Giovanni: Verführer und Genussmensch. Aber verbirgt sich hinter der Fassade des Bonvivants nicht eine zwanghafte, gehetzte Seele? Die Psychoanalyse würde ihm wohl Eroberungszwang attestieren. Und den Patienten Don Giovanni mithilfe einer guten Therapie dabei unterstützen, echte Beziehungen leben zu können.

Szenenbild Don Giovanni  | Bildquelle: Thomas Dashuber

Bildquelle: Thomas Dashuber

Don Giovanni und Don Juan – ein sprichwörtlich gewordener Name: der Lebemann und Bonvivant, der Charmeur, der Womanizer, der Galan, der Verführer und Schürzenjäger. Verabscheut und bewundert zugleich. Aber ist Don Juan oder Don Giovanni wirklich der tolle Hecht, als der er sich ausgibt und für den ihn alle halten? Ein paar dahingeworfene Worte des vermeintlich so leichtlebigen Frauenhelden im 2. Akt lassen da aufhorchen: "Die Weiber! Dummkopf!", sagt er da zu Leporello, seinem Diener, "So wisse, dass sie mir nötig sind wie das Brot, das ich esse, wie die Luft, die ich atme."

Don Juan und sein Syndrom

Klingt da nicht ein verzweifelter, tieftrauriger Unterton mit? Der ungebundene Lebemann ist nicht der Herr seines Lebens, sondern ein Getriebener, ein Gehetzter? Ein Fall für die Couch? Sigmund Freud nahm bei seinen Untersuchungen der menschlichen Psyche besonders die Sexualität in den Blick. So geisterte bald auch die Figur des Don Juan durch die Diskurse der frühen Psychoanalyse. Damals etablierten sich die Begriffe Don Juanismus oder Don-Juan-Syndrom, um das Verhalten von zwanghaften Verführern oder Verführerinnen zu benennen. Und was sagt die heutige Psychoanalyse dazu?

Eroberungszwang und Ghosting

Sonja Rieder ist Psychotherapeutin mit einer Praxis in Wien und Autorin des Buchs: "Don Juan auf dem Hot Seat – Überlegungen zur Psychotherapie mit amourös-narzisstisch strukturierten Menschen". Und wie Sonja Rieder mehrfach betont, betrifft diese Persönlichkeitsstruktur trotz der populären Don-Juan-Figur nicht nur Männer, sondern vielfach auch Frauen: "Donjuanismus oder Don-Juan-Syndrom sind eigentlich veraltete Begriffe, die so heute keine besondere Bedeutung mehr haben", sagt Sonja Rieder, "aber man meint damit eine spezielle Art von Bindungsstil, eine Art, Liebe zu suchen, die sich in einem permanenten Eroberungszwang ausdrückt. Ist die Eroberung geglückt – das macht man meistens an einer sexuellen Eroberung fest – dann verlieren Betroffene schnell das Interesse am Gegenüber, lassen es fallen, sind nicht mehr interessiert, antworten nicht mehr. Heute würde man das Ghosting nennen."

Abenteuerlust als Fassade

Bild aus dem CD-Cover "Mozart - Don Giovanni", Hörspiel von Katharina Neuschaefer | Bildquelle: Igel Records Don Giovanni maskiert sein schwaches Selbstwertgefühl. | Bildquelle: Igel Records Der Eroberungszwang ist das kennzeichnende Symptom. Nicht immer wird diese Zwanghaftigkeit jedoch erkannt, weil der Schürzenjäger oder die Herzensbrecherin nach außen hin ein beneidenswertes Leben führen: Sie erleben ständig Neues, sind abenteuerlustige Typen, genießen augenscheinlich das Leben in vollen Zügen, nutzen jede Gelegenheit zum Spaß aus. Doch hinter dieser Fassade sieht das Bild einer solchen Persönlichkeit oft ganz anders aus, wie Sonja Rieder erläutert: "Im Innern haben wir aber gleichzeitig das Phänomen, dass ein nur ganz schwacher Selbstwert vorhanden ist, den Betroffene wie manisch immer wieder erhöhen müssen, und zwar durch Eroberungen. Aus dieser Sackgasse kommen sie nur schwer selber heraus." Deshalb auch die Prahlerei des Don Giovanni in der Oper, der seinen Diener eine Liste aller seiner amourösen Eroberungen führen lässt, die berühmte Registerarie des Leporello.

"Don Giovanni" live auf BR-KLASSIK

Am 20. Januar 2024 ab 19:05 Uhr überträgt BR-KLASSIK die Premiere von Mozarts "Don Giovanni" live aus dem Nürnberger Staatstheater.

Prototyp des Verführers

Nun leben Literatur und Oper schon immer von extremen Charakteren und ihren Exzessen oder Konflikten, von inneren Widersprüchen und ihren Auswirkungen auf die Mitmenschen. Den normalen Durchschnittsmenschen bei ihren Durchschnittstätigkeiten zuzuschauen, das reißt kein Publikum vom Hocker. Dennoch sticht Don Juan als Fantasie-Gestalt in Drama, Roman oder Oper noch einmal besonders heraus – ist er doch ein Prototyp, der Künstlerinnen und Künstler über viele Epochen hinweg bis heute fasziniert. Seine Abenteuer stillen womöglich auch einen gewissen Hang zum Voyeurismus bei den Menschen, so Sonja Rieder, und "vielleicht können wir da auch eigene Persönlichkeitsanteile finden, die wir im echten Leben nicht ausleben, aber durch die Oper oder indem wir Bücher mit solchen Figuren lesen."

Der wichtigste Faktor für Lebenszufriedenheit und für Lebensqualität sind unsere Beziehungen.
Psychotherapeutin Sonja Rieder

Casanova und seine frühkindlichen Verletzungen

Die Gründe für die Ausbildung einer amourös-narzisstischen Persönlichkeit "finden sich in den allermeisten Fällen in frühen Bindungstraumatisierungen im Leben", sagt Sonja Rieder. "Es reicht, wenn die Beziehungspersonen, also Vater und Mutter, weniger erreichbar waren, einfach nicht gut für das Kind sorgen konnten oder wenn es auch keinen wirklich guten Ersatz für einen der beiden gab. Und das muss auch nicht aus schlechten Gründen erfolgen. Es kann etwa sein, dass es Krankheit gegeben hat, dass ein Elternteil psychisch krank war oder alkoholkrank. Aber was auch häufig vorkommt, ist eine Missachtung der sexuellen Sphäre eines Kindes oder Jugendlichen, Überschreitungen dieser Grenzen können natürlich auch ihre Folgen haben in Schwierigkeiten mit Liebesbeziehungen."

Giacomo Casanova | Bildquelle: Anton Raphael Mengs/1760 Darstellung von Giacomo Casanova | Bildquelle: Anton Raphael Mengs/1760 Sonja Rieder nennt ein berühmtes Beispiel – einen der legendären Verführer des 18. Jahrhunderts: Giacomo Casanova. Mozarts Librettist Lorenzo da Ponte war mit Casanova sogar befreundet, und es ist nicht auszuschließen, dass er die Figur des Don Giovanni am lebendigen Beispiel seines Freundes gestaltet hat. Casanova war das Kind einer 17-jährigen Schauspielerin. Die Großmutter zog den Jungen auf, da die Mutter ihre Karriere nicht aufgeben wollte und nach London ging. Sie besuchte den Jungen zwar in regelmäßigen Abständen, aber dauerhafte Zuwendung bekam er als Kind nie.

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Vorbericht: Mozarts "Don Giovanni" am Staatstheater Nürnberg

Zwischen Ausgrenzung und sozialem Aufstieg

Auch das Leben, das Lorenzo da Ponte in seinen Memoiren aufs lebhafteste ausmalt, ist dem seines Freundes Casanova gar nicht so unähnlich. Inklusive einer schweren Kindheit, wenn auch in ganz anderer Hinsicht: Die Familie von da Ponte erfuhr wegen ihres jüdischen Glaubens gesellschaftliche Ausgrenzung. Sein Vater konvertierte schließlich zum Katholizismus und ließ seine Kinder von einem Bischof adoptieren, um ihnen sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Der junge Lorenzo musste seine familiäre Identität aufgeben und den Namen eines Wildfremden annehmen, um seine Herkunft hinter sich zu lassen.

Don Giovanni auf der Couch

Ein reizvolles Gedankenspiel: Was würde die Psychotherapeutin Sonja Rieder diagnostizieren, wenn der Don Giovanni von Mozart und da Ponte in ihre Praxis in Wien spazieren und sie um Rat fragen würde? Natürlich müsse man erst einmal erkunden, wie seine Kindheit war, wie er aufgewachsen ist, aber "vermutlich würde ich ihm die Diagnose einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung stellen. Das ist eine relativ neue Diagnosekategorie. Es gibt sie jetzt erstmals im soeben in Kraft getretenen ICD 11 Diagnosemanual der Weltgesundheitsorganisation. Eine wichtige Errungenschaft meiner Meinung nach, dass es diese Diagnosekategorie gibt, weil einfach sehr oft hinter Depressionen, Angststörungen, leeren Gefühlen, aber auch somatischen Beschwerden einfach komplexe Traumatisierungen in Kindheit und Jugend stecken."

Donjuanismus oder Don-Juan-Syndrom sind eigentlich veraltete Begriffe.
Psychotherapeutin Sonja Rieder

Lernen innig zu Lieben

Szenenbild vom Landestheater Salzburg | Bildquelle: Anna-Maria Löffelberger Don Giovanni als fieser Comic-Bösewicht: Szenenbild am Landestheater Salzburg. | Bildquelle: Anna-Maria Löffelberger Freilich betont Sonja Rieder, dass der amouröse Narzissmus unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann und in Reinform eher selten vorkommt. Wahrscheinlich käme Don Giovanni gar nicht auf die Idee, dass mit ihm etwas nicht stimmt, und er würde ihre Praxis wohl eher nicht aufsuchen. Aber bleiben wir kurz bei unserem Gedankenspiel: Nehmen wir an, sein Diener Leporello, völlig entnervt von den Eskapaden seines Herrn, würde ihn schließlich doch überreden können, sich Hilfe zu suchen, um dem Höllenfeuer zu entgehen. Wie würde sich Don Giovanni überhaupt verhalten, wenn er in die Therapiesitzung kommt? Es sei damit zu rechnen, dass er in seinen gewohnten Mustern bleibe, so Sonja Rieder, und versuche, zu manipulieren und zu verführen. "Das kann bis zu sexuellen erotischen Verführungsversuchen gehen und ist in meiner Praxis auch schon geschehen." Es sei ja auch ihre Aufgabe, ein ehrliches und mitfühlendes Gegenüber für ihre Klientinnen und Klienten zu sein und ihnen zu spiegeln, "wie das bei einem ankommt, ob man sich verletzt fühlt, ob man sich manipuliert fühlt – das ist dem Gegenüber oft gar nicht klar." Gerade darin liegt der Hebel, den Sonja Rieder als Therapeutin ansetzen kann – damit das Leben ihrer Klientinnen und Klienten nicht in der Katastrophe endet wie bei Don Giovanni. "Es klingt so banal, aber wir wissen aus der Forschung, dass der wichtigste Faktor für die Lebenszufriedenheit, für die Lebensqualität eben unsere Beziehungen sind. Das sind Liebesbeziehungen, aber auch Freundschaften. Und darum ist das auch so eine wichtige Arbeit."

Mozarts "Don Gioavanni" in Nürnberg

Premiere am 20. Januar 2024
Beginn: 19 Uhr
Ort: Staatstheater Nürnberg

Wolfgang Amadeus Mozart: "Don Giovanni"
In italienischer Sprache

Don Giovanni - Samuel Hasselhorn
Donna Anna - Julia Grüter
Don Ottavio - Sergei Nikolaev
Donna Elvira - Corinna Scheurle
Leporello - Wonyong Kang
Masetto - Demian Matushevskyi
Zerlina - Andromahi Raptis

Chor des Staatstheaters Nürnberg
Staatsphilharmonie Nürnberg
Leitung: Roland Böer

Informationen zu Tickets und weiteren Vorstellungen finden Sie hier.

Sendung: "Allegro" am 19. Januar 2024 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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