Staaten, Religionen oder politische Gruppen setzen Musikstücke ganz gezielt ein, um Menschen zu beeinflussen. Warum eignet sich ausgerechnet die Musik besonders gut als Machtinstrument?
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In meiner Jugend war ich auf vielen Konzerten von Rock- und Punkbands. Am liebsten mochte ich Bon Jovi. Die Dynamik dort fand ich faszinierend. Alle haben der Band zugejubelt, ich im Publikum war plötzlich Teil einer Gruppe, obwohl ich die anderen Menschen um mich herum ja eigentlich gar nicht kannte. Aber wir haben alle gemeinsam die Songtexte mitgesungen. Die Musik war so mächtig, dass sie ganz unterschiedliche Menschen vereinen konnte.
Klingendes Staatssymbol: Vor einem Fußballspiel der Deutschen Nationalmannschaft wird die Hymne gespielt. | Bildquelle: picture alliance / Pressebildagentur ULMER "Musik spricht etwas so tief in uns an, was uns emotional aufwühlt, was wir gar nicht so erklären können", erklärt mir Dr. Yvonne Wasserloos dieses Phänomen. Sie ist Professorin für Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Theater Rostock. Diese starke Wirkung von Musik macht sie auch für Herrschende, für Staaten, Religionen und politische Gruppen so attraktiv. Sie setzen Musik ganz gezielt ein, um Menschen zu beeinflussen. Im Wahlkampf werden energetische Popsongs gespielt. Im Krieg sollen martialische Märsche zum Kampf motivieren. Sich endlos wiederholende, spirituelle Klänge können uns in Trance versetzen. Musik wird aber auch instrumentalisiert, wenn vor einem Fußballspiel der Deutschen Nationalmannschaft die Nationalhymne gespielt wird – als klingendes Staatssymbol.
"Mit Hymnen versucht man, die Bevölkerung immer wieder auf den Staat einzuschwören. Sie soll sich mit ihrem Staat identifizieren", so Yvonne Wasserloos. Besonders stark ist die Wirkung, wenn die Menschen im Stadion laut mitsingen. "Das erzeugt Gemeinsamkeit. Man fühlt sich mit anderen verbunden. Hier kann man sich viel stärker zu einem Staat bekennen als etwa durch eine wehende Fahne." Dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit beim gemeinsamen Singen lässt sich sogar wissenschaftlich messen: Das Bindungshormon Oxytocin steigt an.
Wie klingt das Weltall? Fördert Klavier spielen die Intelligenz? Und wie musizierten Steinzeitmenschen? Auf diese und andere spannende Fragen antwortet der neue Wissens-Podcast "Kosmos Musik" mit der Astrophysikerin und angehenden Astronautin Suzanna Randall. Jede Woche donnerstags eine neue Folge: bei BR Podcast, in der ARD Audiothek und überall, wo es Podcasts gibt.
Welche Macht das gemeinsame Singen haben kann, hat die Singende Revolution im Baltikum von 1987-1991 gezeigt. Während der langen sowjetischen Besetzung von Estland, Lettland und Litauen waren Volkslieder extrem wichtig für den Zusammenhalt der Menschen. Obwohl sie verboten waren, haben die Menschen diese Lieder immer wieder gesungen, als Widerstand gegen die Sowjetunion.
"Es ist bis heute ein unglaubliches Phänomen, dass man über dieses friedliche Singen eine Weltöffentlichkeit auf die Lage im Baltikum aufmerksam gemacht hat", so Yvonne Wasserloos. "Durch das permanente Singen der eigenen Volkslieder haben die Menschen gezeigt, dass sie souverän sind und kein Satellitenstaat sein wollen." Die Wirkung von Musik ist also so mächtig, dass sie sogar politische Systeme umkrempeln kann. Deshalb haben totalitäre Systeme auch immer versucht, Musik zu kontrollieren, erklärt mir die Musikwissenschaftlerin.
Adolf Hitler mit Winifred Wagner in einer Opernloge im Festspielhaus auf dem "Grünen Hügel" in Bayreuth. | Bildquelle: BR / Studio Franken Im Nationalsozialismus wurde Musik für Ideologie und Propaganda instrumentalisiert. Als "deutsch" galten Stücke von Bach, Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Bruckner und vor allem Richard Wagner. Wagner hatte 1850 die Schrift "Das Judenthum in der Musik" verfasst und dadurch den Antisemitismus in der deutschen Musikwelt "salonfähig" gemacht. Das passte natürlich perfekt ins Konzept der Nationalsozialisten. Hitler selbst war ein großer Wagner-Fan und Ehrengast bei den Bayreuther Festspielen. Ab 1935 eröffnete Richard Wagners Oper "Die Meistersinger von Nürnberg" jedes Jahr in Nürnberg die Reichsparteitage der NSDAP. Und Richard Wagners klanggewaltige Tonsprache wurde gezielt benutzt als emotional-martialische Begleitmusik bei Feldzügen der Armee.
Musik, die nicht der nationalsozialistischen Ideologie entsprach, wurde als "entartet" diffamiert: Moderne Stile wurden mit den Begriffen "Degeneration" und "Zersetzung" gebrandmarkt. 1938 fand eine Ausstellung "Entartete Musik" in Düsseldorf anlässlich der Reichsmusiktage statt. Wie in München wurde auch hier "Undeutsches" an den Pranger gestellt, jüdische Operetten- und Schlagerkomponisten, atonale Werke und der Jazz wurden als "artfremd" diskriminiert.
Dmitrij Schostakowitsch | Bildquelle: picture-alliance / RIA Nowosti Auch in der UdSSR war genau vorgegeben, wie systemkonforme Musik zu klingen hatte. Doch die Werke des Komponisten Dmitri Schostakowitsch zeigen, wie man sich als Künstler auch in einer Diktatur seine schöpferische Freiheit erhalten kann. "Mit seiner Musik, die so ironisch ist und immer so am Rande des Sagbaren funktioniert, kritisierte Schostakowitsch subtil das System der UdSSR." Als Beispiel nennt Yvonne Wasserloos Schostakowitschs 12. Symphonie mit dem Untertitel "Das Jahr 1917". Die Symphonie wurde 1961 beim Parteitag der KPdSU uraufgeführt. Schostakowitsch setzte hier der Oktoberrevolution ein musikalisches Denkmal – zumindest offiziell. "Das Finale ist im Grunde eine Vorführung der Parteigenossen, weil Schostakowitsch den Zuhörern den Applaus vorenthält. Aber er konnte dafür nicht sanktioniert werden."
Seit Herbst 2021 leitet Yvonne Wasserloos gemeinsam mit Volker Ahmels das Zentrum für Verfemte Musik der hmt Rostock. Hier forscht die Musikwissenschaftlerin unter anderem zum Thema "Rechtsextremismus und Musik". "Bis zum Jahr 2010 etwa hat die rechtsextreme Szene durch Musikproduktionen einerseits versucht, ihre Haltung über Musik zu artikulieren, aber damit auch zu manipulieren und neue Anhänger*innen zu gewinnen", erklärt mir die Wissenschaftlerin. Der Sound war brachial, die Gesangsstimmen klangen harsch. Die Texte riefen zu Hass und Gewalt auf.
Doch seit 2010 hat sich die Szene noch einmal ganz anders aufgestellt, so Wasserloos. Heute inszenieren sich rechtsextreme Gruppen häufig über Videos im Internet. "Das sind Dokumentationen oder Aktionen, die eigentlich nur deshalb gefilmt werden, damit sie auf YouTube hochgeladen werden können." Yvonne Wasserloos stellte fest, dass für diese Videos zunehmend Mainstream-Musik benutzt wird, um die Bilder stimmungsvoll zu unterlegen und damit eine Wirkung zu erzielen. Sehr beliebt ist Filmmusik. Das Gefährliche: Die rechtsextremen Inhalte der Videos können von Laien oft gar nicht erkannt werden. "Man wird erst mal hineingesaugt durch die gewaltigen, eindrucksvollen Bilder und weiß gar nicht so richtig, um was es eigentlich geht."
Auf diese Weise wollen Anbieter rechtsextremer Inhalte einer möglichen Zensur entgehen. Medien, die die Entwicklung von Kindern oder Jugendlichen bzw. ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit gefährden können, werden in Deutschland indiziert und werden in spezielle Listen aufgenommen. Auf die Liste A und die Liste C kommen Medien und Internetseiten, die nicht für Kinder und Jugendliche zugänglich sein dürfen. Dazu gehören zum Beispiel Songs oder Videos, die verrohend wirken oder zu Gewalt oder Verbrechen anreizen können. In besonders krassen Fällen kommen Medien und Websites auf die Liste B und D, zum Beispiel bei volksverhetzenden Inhalten. Dann dürfen die Inhalte auch für Erwachsene nicht zugänglich sein und die Anbieter werden strafrechtlich verfolgt. Laut der Bundeszentrale für Kinder und Jugendmedienschutz stehen zur Zeit knapp 11.000 Medien auf dem Index.
Sendung: "Allegro" am 31. März 2022 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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