Als "Vater des DDR Free Jazz" wurde er bezeichnet, Ernst-Ludwig "Luten" Petrowsky war ein herausragender Musiker, ein Freigeist und ein subtiler Formulierer mit Tönen und Worten. Am 10. Juli ist er im Alter von 89 Jahren gestorben.
Bildquelle: Herbert Weisrock
"Im Jazz geht man immer ein Abenteuer ein, mit sich selbst, mit den Mitmusikern und mit dem eigenen Instrument. Es ist jedes Mal eine Herausforderung, bei der man über den eigenen Schatten zu springen gezwungen ist. Sonst wäre es kein Jazz!"
So konnte nur er formulieren, mit feinen sprachlichen Girlanden, farbig, aber nie zu blumig, ein bisschen um die Ecke gedacht, aber trotzdem eindeutig in der Aussage. Jedes "R" ein norddeutsch küstennah gerolltes. Ein eigener Sound eben! Den hatte Ernst-Ludwig Petrowsky. Ihm nahestehende Menschen nannten ihn "Luten". Das ist ein altdeutscher Name und bedeutet: "aus dem Volk".
Einen subtil-markanten Sound hatte er auch auf dem Saxophon, besonders das Altsaxophon war sein Sprachrohr. Darauf konnte er schreien, jubilieren, säuseln und flüstern. Er konnte im free-jazzigen Getümmel unwiderstehlich swingen, aber auch scheinbar simplen Volksliedmelodien eine Schroffheit und Bissigkeit geben. Nun ist sein Sound, der schon einige Jahre nicht mehr öffentlich zu hören war, vollends verstummt. Ernst-Ludwig Petrowsky ist am 10. Juli, fünf Monate vor seinem 90. Geburtstag gestorben.
Am 10. Dezember 1933 kommt Ernst-Ludwig Petrowsky in Güstrow in Mecklenburg-Vorpommern zu Welt. Als Kind erlebt er, wie sich die Menschen in Deutschland für den Nationalsozialismus begeistern, nach dem Krieg fasziniert ihn der Jazz - und besonders ein polnischer Pianist, Krzysztof Komeda. Ihn lernt er bei einer Jugendfreizeit kennen, Komeda als Leiter einer Folkloregruppe, der sich abends in einen "ganz potenten Jazzpianisten" verwandelt. So erzählte es Petrowsky im Interview mit BR-KLASSIK Jahrzehnte später. Er selbst, so schilderte er weiter, stieg dann mit dem Altsaxophon bei der Jamsession ein, als "blutiger Anfänger", aber die Formulierungsgabe für treffende Töne hatte der Saxophonist wohl damals schon. Er wurde gefeiert von den polnischen Musikern und wäre dann auch aus der neugegründeten DRR er eher in den Osten als in den Westen geflohen.
Das Zentralquartett | Bildquelle: Matthias Creutziger
Dazu kam es aber nicht, denn auch im SED-System bewegte sich Petrowsky zumindest musikalisch frei mit seinen Quartett-Kollegen in der Band "Synopsis". 1973 gegründet, wurde diese Band zur vielleicht bedeutendsten Jazzband der DDR. Nach einigen Jahren und auch Monaten der Trennung formierte sich die Band in den 80er Jahren mit Schlagzeuger Günter Baby Sommer, Pianist Ulrich Gumpert, Posaunist Conny Bauer und Petrowsky neu und sollte unter dem Namen "Zentralquartett" Legendenstatus erreichen. Markenzeichen des Ensembles: Volkslied-Bearbeitungen und volksliedhafte Kompositionen, die zwischen expressiv-freiem Suchen und süffigem Schwelgen pendelten.
War das nun die musikalische Antwort auf die Unterdrückung des DDR-Regimes? War es die politische Musik?
"Luten" in den 80er Jahren | Bildquelle: Matthias Creutziger
"In der DDR war sie völlig unpolitisch und dadurch wurde sie auch politisch. Das ist ein komischer, doppelter Rittberger-Widerspruch in sich. Aber wir wurden dauernd bezichtigt, irgendwie dagegen zu sein und hatten in der DDR auch ein relativ großes Publikum, das aber im Grunde genommen nicht nur aus Musikkennern oder Fans bestand, sondern das waren Leute, die mit der Musik gar nichts anzufangen wussten. Da kamen Leute, um die uns, was die Zahl des Publikums betraf, die West-Musikerkollegen beneideten. Wir hatten ein riesiges Publikum, das uns teilweise, als wären wir Popstars, nachgereist ist. Aber die wollten nur die Atmosphäre genießen, die sozusagen körperlich war, die dort herrschte und die mit dem furztrockenen System der DDR-Politprominenz überhaupt nichts zu tun hatte und etwas Besonderes war. Die Musik haben sie nicht gespürt, aber die Atmosphäre von Aufbruch, um nicht zu sagen Aufbegehren. Also wir waren insofern politisch, als wir so entspannt und relaxt und sozusagen auch so freiheitlich im Umgang mit dem musikalischen Repertoire waren, dass da eine Menge für die Leute abfiel, die die Musik nicht verstanden, aber die Atmosphäre genossen. Insofern war die nicht politisch sein wollende und könnende Musik dann doch politisch."
Ausgeschmückter, feinziselierter und augenzwinkernder kann man so eine Aussage nicht formulieren. Eine typische Luten-Petrowsky-Antwort.
Klar politischer, aber vielleicht musikalisch kompromissbereiter wurden die Klänge des Zentralquartetts manchmal, wenn die Band den Liedermacher Wolf Biermann begleitete. Ansonsten waren die vier eine eingeschworene Bande, die auch und gerade in den letzten aktiven Jahren von Ernst-Ludwig Petrowsky viel Rückhalt bot:
"Ich bin ja nun schon ein in die Jahre gekommener Musiker. Es gibt da die saloppe Bezeichnung ,alter Sack‘, und da lassen die Kräfte auch schnell nach, besonders, wenn sie mit einer solchen Intensität herausgefordert werden wie in der Jazzmusik und mit einem Quartett, das auch noch das Zentralquartett heißt. Das bedeutet, es ist schon eine Art Kraftakt in jeder Beziehung, psychologisch, physiologisch und auch noch intellektuell. Wobei man immer, Gottseidank, damit rechnen kann, wenn einem irgendetwas verrutscht, um nicht zu sagen, wenn man ausrutscht, rein musikalisch, dann wird man immer aufgefangen."
Sängerin Uschi Brüning und Saxophonist Ernst-Ludwig "Luten" Petrowsky | Bildquelle: Matthias Creutziger Musikalisch und sicher auch menschlich aufgefangen wurde Ernst-Ludwig Petrowsky ab den 80er Jahren durch seine Frau Uschi Brüning. Sie war ein Schlagerstar der DDR gewesen, hatte sich dann aber immer mehr dem Jazz zu gewandt. Im Duo mit ihrem Ehemann wurde mit hinreißendem Spieltrieb improvisiert, aber es gab auch ganz tiefe und intensive Verneigungen vor der Jazz-Tradition. Das 2013 aufgenommene und beim Label "Jazzwerkstatt" veröffentlichte Album "Ein Résumé" enthält viele dieser sehr innigen, aber auch expressiven Momente.
Wenige Jahre vorher wurde Musik von Ernst-Ludwig Petrowsky weit über die Grenzen des Jazz hinaus berühmt. Zwei seiner Stücke in Aufnahmen aus den 60er Jahren wurden als Filmmusik im preisgekrönten Stasi-Drama "Das Leben der Anderen" verwendet. Die Hauptpersonen, gespielt von Martina Gedeck und Sebastian Koch, tanzen zu einem Stück im 5/4-Takt gespielt von Petrowskys damaliger Band.
Im Jahr 2013, kurz vor dem 80. Geburtstag des Musikers, widmete ihm das Jazzfest Berlin einen ganzen Abend, und kurz danach zog sich Ernst-Ludwig Petrowsky aus der Öffentlichkeit zurück. 2022 wurde ihm der Deutsche Jazzpreis für sein Lebenswerk verliehen. Die Auszeichnung musste Uschi Brüning für ihn entgegennehmen, er selbst konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht zu Preisverleihung nach Bremen reisen.
"Ich bin sehr traurig, dass er ihn (den Preis), nicht selbst in Empfang nehmen kann, denn er war ein Musiker, der immer an sich zweifelte und er hätte das jetzt genossen, das wäre eine nachträgliche Bestätigung seines großen Könnens", sagte Uschi Brünig bei der Preisverleihung.
Ernst-Ludwig Petrowsky, dieser selbstkritische, aber herausragende Musiker, feinsinnige Denker, lustvolle Formulierer und beeindruckende Mensch ist am 10. Juli 2023 im Alter von 89 Jahren gestorben.
Sendung: ARD Radiofestival Jazz am 11. Juli 2023 ab 23:30 Uhr auf BR-KLASSIK