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NEUE JAZZ-ALBEN, VORGESTELLT IM GESPRÄCH - Vol. 22 Hören wir Gutes und reden darüber!

Beate Sampson, Roland Spiegel und Ulrich Habersetzer überraschen sich und Sie mit aktuellen Jazzalben. Dieses Format wurde mit dem Deutschen Radiopreis 2022 als "Beste Sendung" ausgezeichnet, hier die 22. Ausgabe von "Hören wir Gutes und reden darüber".

Cover - Michael Blake: Dance of the mystic bliss | Bildquelle: P&M Records

Bildquelle: P&M Records

"Hören wir Gutes und reden darüber Vol. 22" hier zum Nachhören.
In dieser Sendung haben sich Beate Sampson, Roland Spiegel und Ulrich Habersetzer zum zweiundzwanzigsten Mal gegenseitig mit Alben überrascht: Niemand wusste vorher, was die jeweils anderen mitbringen würden. Über folgende drei Alben wurde in der Sendung gesprochen.

Michael Blake & Chroma Nova: "Dance of the mystic bliss" P&M Records

"Chroma Nova" heißt das Ensemble, mit dem der kanadische Saxophonist Michael Blake seine aktuelle CD aufgenommen hat. Zwei Bedeutungen stecken in dem griechischen Wort "Chroma". Das ist zum einen die "Farbe", zum anderen aber auch der Begriff für das Halbton-Intervall, das zwölf Mal in der chromatischen Tonleiter vorkommt. So hat man gleich zwei musikalische Komponenten im Namen der Besetzung mit zwei Perkussionisten, einem Kontrabassisten, einem Cellisten, einem Geiger und einem E-Gitarristen. In dieser Kombination mischen die Musiker in Kompositionen von Michael Blake einen wunderbar eigenen Jazz-Farbton an, in dem verschiedene, aus dem afrikanischen Musikerbe stammende oder erwachsene Ströme zusammenfließen - die Gitarrenriffs der westafrikanischen High Life Tradition etwa, der Blues und südamerikanische Rhythmuspatterns. Die Musiker stammen aus Nordamerika, aus Brasilien und Puerto Rico und leben alle in New York. Michael Blake seit Mitte der 80er Jahre, als er mit 20 ein Schüler von Dave Liebman wurde. Wenig später holten ihn John und Evan Lurie in ihre legendäre Band "Lounge Lizards", mit der sie damals ein junges Publikum für den Jazz mobilisierten, indem sie seine swingende und seine freie Tradition auf einem hohen Energielevel vereinten. Energie. Die steckt auch in hoher Dosierung in der Musik von Michael Blake & Chroma Nova. Das Konzept ist aber nicht das Herausstellen eines Virtuosentums, sondern ein nuancenreiches Miteinander, aus dem Michael Blakes Saxophonspiel in seelenvoller, rau-zarter Eloquenz heraustönt. Hier entfaltet sich das improvisatorisch-schöpferische Potential der Musik gerne auch mal über einfacher Pendel-Harmonik, repetitiven Patterns und in mittleren Tempi, während das tänzerische Moment des Jazz nach vorne rückt. Das Album "Dance of the mystic bliss" ist Michael Blakes Hommage an und freudvolle Feier von Menschen, die er verloren hat - allen voran seine Mutter Merle, die Tänzerin war - und Orten, die es nicht mehr gibt. Und das ist Musik, die Ermutigung und Lebensbejahung in ihren Tönen zu tragen scheint.

Elina Duni: "A Time To Remember", ECM Records 2781

Cover - Elina Duni: A time to remember | Bildquelle: ECM Records Bildquelle: ECM Records Die albanisch-schweizerische Sängerin Elina Duni ist eine Interpretin der besonders feinen Töne. Zart, ungemein schlank und zugleich voller Ausdruckskraft ist ihre Stimme: Ihr Gesang durchzieht die Stücke wie hell leuchtende Linien. "A Time To Remember" heißt ihr aktuelles Album, auf dem der Gitarrist Rob Luft, der Flügelhornist Mathieu Michel und der Pianist und Schlagzeuger Fred Thomas mitspielen. Erinnerung ist bei einer Sängerin wie Elina Duni nichts Sentimentales, sondern etwas Existentielles. Es gebe Zeit, die man noch erleben kann - und es gebe Zeit, die der Erinnerung angehört: So heißt es im Titelsong, den Elina Duni und Rob Luft zusammen komponiert haben. "Die Lasten, die wir tragen, werden uns empfindsam machen / Sie sind das, was bleibt / Von der glimmenden Asche unseres Lebens", heißt es in dem Lied weiter. Ein anderes Highlight auf dem Album ist gleich das erste Stück, "Évasion", die Vertonung eines Gedichts der israelisch-belgischen Lyrikerin Esther Granek. Um Flucht (Escape) im ganz umfassenden Sinn geht es darin: Der Text konfrontiert eine innere Wüste mit dem Anblick der Weite des Meers. Der Gesang dazu lässt Schmerz und Schönheit zu sanft wogender Begleitung schillern: ein Chanson-Glanzlicht. Elina Duni gleitet auf diesem Album leise und weich, aber nie harmlos, von Stimmung zu Stimmung und Sprache zu Sprache, singt auch traditionelle Lieder aus Albanien und dem Kosovo – stets mit großem Gespür für Musik und Texte. Die ungemein kammermusikalische Begleitung ihrer drei Bandmitglieder trägt den Gesang mit hoher Elastizität. Ein Traum: die gelassen-hochvirtuosen Gitarren-Parts von Rob Luft (mit dem Duni hier auch einige bewegende Duo-Momente hat) und die traumverloren schönen Flügelhorn-Linien von Mathieu Michel. An album to listen to! And to remember!

Wynton Marsalis & Jazz at Lincoln Center Orchestra and The Melbourne Symphony Orchestra: "The Jungle", Blue Engine Records BE0040

Cover - Wynton Marsalis: The Jungle | Bildquelle: Blue Engine Records Bildquelle: Blue Engine Records  Es pulsiert, flirrt und grooved im Dschungel! Zumindest im Großstadt-Dschungel von New York und in der musikalischen Übersetzung des Ganzen, die Wynton Marsalis komponiert hat. "The Jungle" heißt sein neues Album und der Trompeter nennt das Werk seine 4. Sinfonie, eingespielt von seinem "Jazz at Lincoln Center Orchestra" zusammen mit dem Melbourne Symphony Orchestra und zwar live 2019 in Australien.
Das ist bemerkenswert, denn die Musik ist ziemlich komplex und engverzahnt, trotzdem scheint hier nirgends auch nur eine winzige Unsicherheit zu sein. Die beiden Orchester spielen schlicht perfekt und dazu noch mit einer beeindruckenden Lässigkeit und einem satten Bigband-Druck. Spannend auch, dass fast durchgängig im Ensemble gespielt wird. Nur wenige ausführliche Soli sind auf "The Jungle" zu hören, fast immer gibt es Bläser- oder Streichersätze im Hintergrund und selten entwickelt eine Solistin oder ein Solist eine Improvisation über einen längeren Zeitraum hinweg. Ensemblemusik ist Marsalis' sechsteilige Sinfonie, in der aber kein klassisches Orchester auf eine Jazzband trifft, sondern in der beide Ensembles sehr engverwoben miteinander spielen. Die klassischen Farben sind eher spätromantisch oder expressionistisch, immer wieder erinnern die Klänge an Strawinsky, sperrigere Sounds aus der zeitgenössischen Klassik kommen selten vor. Auch die Jazzklänge sind eher traditionell und gerne grooved es im New-Orleans-typischen Secondline-Stil, dann scheint Marsalis‘ heimatliche Musiksozialisierung durch. "The Jungle" zeigt, auf welch hohem Niveau der Trompeter und Komponist mit seinem Ensemble unterwegs ist. Und wie immer bei Wynton Marsalis, die einen werden es lieben, die anderen werden es ablehnen. Marsalis polarisiert einfach - gut so!

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