Normalerweise bietet die Ballettfestwoche am Nationaltheater in München einen Querschnitt durch das Repertoire der Kompanie. Heuer gibt es ein Gastspiel, "Lost Letters", und eine Neuproduktion. Die vereint allerdings drei Choreografien unterschiedlicher Handschrift, unter anderem das geschichtsträchtige "Frühlingsopfer" von Pina Bausch aus den 1970er Jahren zur Musik von Igor Strawinsky.
Bildquelle: © Serghei Gherciu
"Wings of memory" ist eine Reise zu drei unterschiedlichen Planeten. Jeder davon hat seine eigene Sprache, sprich Körpersprache. Mit aufgesperrten Sinnen erspürt man, was da abgeht: In "Bella Figura", dem ersten Ballett, steht der ästhetische Tänzerkörper im Zentrum: Alle machen eine gute Figur. Das Stück wird von einem strengen Wunsch nach beherrschter Schönheit getragen: Halbnackte Körper bilden in einer Reihe stehend immer wieder andere Ornamente. Es ist wie der Blick durch ein Kaleidoskop. Jeder Schritt, jeder Sprung der neun Tänzerinnen und Tänzer ist mechanisch präzise.
Szene aus "Bella Figura" von Jiri Kylian am Bayerischen Staatsballett in München | Bildquelle: © Serghei Gherciu
Jiri Kylian choreografiert sehr musikalisch zur Musik von Vivaldi, Torelli und Pergolesi, sogar barocke Triller verwandelt er in ein Schulterkippen oder in einen Handkreisel. Als wären die Körper der Tanzenden Musikinstrumente, die das gesamte Gefühlsspektrum ausdrücken können, von makellosem Klang bis zum berührenden, melancholischen Unterton. Entsprechend lässt Kylian die Tänzerinnen und Tänzer mal die Finger fein auffächern, oder sie kippen sanft die Hüfte. Ein Kick, der dann den weiten roten Rock zum Schwingen bringt. Man spürt bei jedem Schritt, jedem geschwungenen Bein den knallharten Willen zur Schönheit und Vollkommenheit. Alles ist so perfekt wie die Fassade von Schloss Versailles. Aber zwischendrin blitzt ganz unerwartet eine Melancholie auf, auch eine Ratlosigkeit.
Wenn zwei Tänzerinnen ihre Arme leidenschaftlich umeinander schwingen und schwenken, sich aber nie berühren, scheint es, als ob sie zweifeln an ihrem Tun. Ergibt das überhaupt einen Sinn, dieses Herumschlenkern? Ist das alles nur gedrilltes Showbusiness? In solchen Momenten scheint es, als ob eine Maske fällt. Und hinter den lautlos funktionierenden Körpern schaut ein Mensch hervor, ein verletzliches Wesen.
Szene aus "Faun" von Sidi Larbi Cherkaoui am Bayerischen Staatsballett, 2025 | Bildquelle: S. Gherciu
Im zweiten Ballett sind wir in einem lichtdurchfluteten Wald. Zur verträumten Flöte aus Claude Debussys "Prélude à l’après-midi d’un faune" räkelt sich der lüsterne Faun in Hot Pants auf dem Boden. Bis eine Frau auftaucht, das Haar offen, der Oberköper eingewickelt in grüne Tücher. Sie holt ihn durch ihre bloße Existenz raus aus der schwülen Trägheit. Wie von der Tarantel gestochen, wirbelt Antonio Casalinho als Faun in Überschlägen quer über die Bühne und erinnert an eine liebestrunkene Meerkatze. Diese Frau wird nun seine Partnerin, auf Zeit, versteht sich. Ballerina Margarita Fernandes wippt ihm in einer tiefen Hocke entgegen wie die kleine Schwester von Tarzan. Und sobald die Musik weiche Melodiebögen vorgibt, bewegen sich ihre Oberkörper elastisch in alle Himmelsrichtungen.
Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui pendelt in dem Pas de deux zwischen plumpen-steinzeitlichen Bewegungen und wilden akrobatische Verknotungen und Überschlägen. Er nimmt dabei das Hin-und Herkippen zwischen "Träum ich oder wach ich" aus Debussys Musik auf. Die Bodenhaftung der Tanzenden spielt eine große Rolle, oft kniet das Paar auf dem Boden, es kriecht umeinander und krabbelt zwischen den Beinen des anderen hindurch.
Mittenrein in ein archaisches Ritual verfrachtet einen das dritte Stück von Pina Bausch: "Frühlingsopfer", entstanden 1975. Dafür hat sie die kraftvolle, rhythmische, manchmal zärtliche, manchmal brutale Musik von Igor Strawinsky zu "Le sacre du printemps" ausgesucht. Geopfert werden muss eine junge Frau. Denn erst mit der Opferung in Form eines ekstatischen, tödlichen Tanzes kann der Frühling neues Leben hervorzubringen. 16 Männer sind auf der Bühne, mit nacktem Oberkörper und 16 Frauen in fließenden hautfarbenen Kleidchen. Die latente Todesangst der Frauen zieht einen rein in das Stück, ihre Anspannung überträgt sich aufs Publikum. Wenn sich die Frauen zu einem Pulk zusammenrotten und immer wieder eine ausschert: Bin ich die Todgeweihte? Man leidet mit und spürt die Erleichterung, wenn diese Frau vom Frühlingsgott verschont wird und in die schützende Gruppe zurückkehrt. Keine will es sein, keine will in das rote Totenhemd, das die ganze Zeit auf der Bühne präsent ist, hineinschlüpfen.
Archaisch, auf Erde, erschütternd: Szene aus "Frühlingsopfer" von Pina Bausch am Bayerischen Staatsballett, 2025 | Bildquelle: © Serghei Gherciu
Also springen sie mit Wucht und gespanntem Körper nach oben, zeigen damit ihre Lebensenergie, ihre Lebenslust, um dann in der Hüfte einzuklappen, als wären sie von einem Faustschlag getroffen worden. Kraft spenden dabei immer wieder die gruppendynamischen, rituell anmutenden Kreistänze der Gemeinschaft – wenn die Compagnie unerschütterlich zu den Dissonanzen in Strawinskys Musik, zum pulsierenden Rhythmus ihren Zusammenhalt beweist: Wir sind wir! Besonders berührend ist, dass sie auf purer Erde tanzen, die ganze Bühne ist davon bedeckt und der Geruch strömt bis in den Zuschauerraum. Die Erde ist nicht nur ein sensibler Untergrund für die Tänzerinnen und Tänzer, sie symbolisiert auch den menschlichen Ursprung und wird zum Kostüm: Das Braun färbt die Füße, klebt an Kleidern und an den verschwitzen Leibern. Und letztlich: Irgendwann werden wir alle zu Erde! In Pina Bauschs "Frühlingsopfer" wird man sofort in diese heidnische, ursprüngliche Welt hineinversetzt, wo Menschen barfuß auf der Erde tanzen. Man denkt plötzlich nicht mehr, man sehe das ehrwürdige "Bayerische Staatsballett". Nein, man sieht ein Dorf mit Männern und Frauen.
Dass dieses komplexe Stück zur sperrigen Musik von Strawinsky so berührend gelingt, hat auch mit dem Dirigenten des Abends, mit Andrew Litton zu tun. Er ist seit neun Jahren Hausdirigent beim New York City Ballet. Er liebt Strawinsky. Die schockierenden, straffen Rhythmen muss man wirklich beherrschen. Und zwar mit einem Auge im Graben beim formidablen Bayerischen Staatsorchester. Mit dem anderen Auge beobachtet Litton, was auf der Bühne passiert. Und ob das, was die Tänerzinnern und Tänzer vorhaben, auch wirklich auf den Schlag in der Musik gelingt. Erst recht, wenn auf auf Erde getanzt wird. Wo man ausrutschen kann und sich eventuell wieder aufrappeln muss. Andrew Litton hat die nötige Erfahrung, leitet mit Liebe und wurde dafür mit einem dicken Extra Applaus vom Premierenpublikum belohnt.
Überhaupt ist das Publikum am Ende ausgeflippt und hat das Bayerische Staatsballett sowie alle beim Einstudieren beteiligten Ballettmeister:innen lautstark bejubelt. Der Abend hat einmal mehr gezeigt, wie flexibel und überzeugend sich die junge Compagnie so unterschiedliche Tanzstile aneignen kann. Und zwar nicht nur mit der perfekt trainierten Maschine, dem Körper, der die Figuren abspult, quasi eine "Bella figura" macht. Sondern sie überlassen sich dem emotionalen flow, der dann auch das Publikum ansteckt. Was bleibt, ist ein gutes Gefühl, denn alle drei Ballette verbindet ein Erwecken, Entdecken und ein Aufwecken. Als ob das Bayerische Staatsballett die persönliche Reset-Taste drückt: Man wird sich bewusst, dass jeder von uns nur ein Teil ist, im ewigen Kreislauf von Leben und Sterben. Und man darf sich in diesen Kreislauf einbetten. Ein tröstliches, erdendes Gefühl in diesen Zeiten.
Sendung: "Allegro" auf BR-KLASSIK am 11.04.2025 ab 06:05 Uhr
Kommentare (1)
Freitag, 11.April, 09:55 Uhr
Jasmin
Absolut enttäuscht
Ich fand es furchtbar. Schlimmer als so manche Sexshow in Las Vegas. Wenn ich zum Tabledance möchte, dann ist da in München genug an Angebot. Das war weder ästhetisch noch zeitgemäß, vorallem dass man dafür ernstzunehmende, tolle Balletttänzerinnen einfach entkleidet tanzen lässt - das ist einfach nur erniedrigend. Wir Frauen sind keine Objekte.
Wie kann man diesen unmelodischen Blödsinn so feiern? Wart ihr überhaupt anwesend?