Er hatte eine dieser Stimmen, von denen Opernfans nicht genug bekommen können: der amerikanische Tenor Neil Shicoff. Es gab ein halbes Dutzend Partien, in denen ihm kein Kollege das Wasser reichen konnte - vor allem Rollen des französischen Repertoires. 2015 nahm der gebürtige New Yorker an seinem Lieblingshaus, der Wiener Staatsoper, seinen Bühnenabschied. Am 2. Juni wird Neil Shicoff 75 Jahre alt.
Bildquelle: Ernst Kainerstorfer
Auf viele Fans wirkte sein melancholisches Timbre wie eine Droge. Aber das war längst nicht alles, was Neil Shicoff zu bieten hatte: Verliererstudien waren seine eigentliche Stärke. Neurotischen, seelisch gebrochenen Tenorhelden verlieh er charismatische Kontur. Da wurde aus einem modernen Opernsänger ein passionierter Menschendarsteller. Immer interessiert an Feinheiten, um den Leidensdruck einer Bühnenfigur greifbar zu machen. Je zerrissener, je paranoider die Psyche der Figur, desto mehr war der nervöse Wahrheitssucher Shicoff in seinem Element.
Es ist und bleibt meine Obsession, in meinen Charakteren nach Antworten zu suchen.
Der Ruf, ein hochintelligenter, aber auch schwieriger Künstler zu sein, eilte ihm lange voraus. Über Jahre hinweg sagte er vereinbarte Auftritte kurzfristig ab. Doch trotz depressiver Verstimmungen und überbordender Selbstkritik meldete er sich stets zurück und stabilisierte sein Ego in einem langen Reifeprozess. Innerhalb des sogenannten spinto-Rollenfachs galt Neil Shicoff als einer der Besten weltweit. Die Herausforderungen des französischen Fachs ließen den Tenor über sich hinauswachsen: Halévys Eleazar, Offenbachs Hoffmann, Bizets Don José, Massenets Werther. Im russischen Repertoire kam seiner komplexen Interpretenpersönlichkeit der Lenski in Tschaikowskys "Eugen Onegin" entgegen, später der Hermann in "Pique Dame". Und auf muttersprachlichem Terrain, auf Englisch, lotete Shicoff seine Grenzen aus: mit Benjamin Brittens "Peter Grimes".
Vielleicht hatte Neil Shicoff vom Vater die Fähigkeit geerbt, sich in seine Aufgaben zu versenken, in ihnen zu verlieren. Sidney Shicoff war ein New Yorker Synagogenkantor russischer Herkunft. Der Sohn ging ab Mitte der 1970er Jahre seinen Weg in die Opernmetropolen, von der MET quer durch Europa bis nach Wien. An der dortigen Staatsoper fühlte sich Shicoff bis zu seinem Bühnenabschied am wohlsten: In Wien liebte ihn das Publikum aufrichtig, und daher triumphierte Shicoff dort mit jedem Premierenerfolg auch über seine inneren Dämonen.
Jeden einzelnen Tag arbeite ich an meiner Stimme.
Sendung: "con passione" am 3. Juni 2024 um 19.05 Uhr auf BR-KLASSIK