Sex sells! Kaum ein anderes Genre hat seit seiner Entstehung so sehr mit Erotik und Nacktheit gespielt wie die Operette. Und kaum ein Genre tut sich heute schwerer, die Erotik wieder auf die Bühne zu bringen. BR-KLASSIK geht diesem Phänomen nach.
Bildquelle: © Böhlau-Verlag Wien
Nirgends wurde im 19. Jahrhundert so freizügig über Sex, Ehebruch und Seitensprünge verhandelt wie auf der Operettenbühne von Jacques Offenbach in Paris. Aufgeführt vor einem aristokratischen männlichen Publikum präsentierten Sängerinnen und Schauspielerinnen im Licht der Kerzen und Gaslaternen nicht nur Musik, sondern auch viel Körper unter durchscheinenden Kostümen. Die Operette besuchte "mann" ohne Ehefrau, sondern in Begleitung der "Grandes Horizontales", der Kurtisanen. Offenbachs Werke galten als moralisch anstößig, als die Gesellschaft destabilisierend – und waren deshalb Kassenschlager in den Theatern.
Das Theater ist doch ... nicht für Betschwestern, spröde alte Jungfern und Hypermoralisten gebaut!
Zwei Tänzerinnen in Offenbachs "La Périchole" im Fifth-Avenue-Theater in New York, 1869. | Bildquelle: ©Sammlung Laurence Senelick Die berühmten Darstellerinnen in den Operetten Offenbachs waren Helene Schneider in Paris oder Marie Geistinger in Wien. Sie waren bekannt für ihre Anzüglichkeiten auf der Bühne, für "Nacktszenen“ im fleischfarbenen Trikot oder obszöne Gesten und Bewegungen. Schneider wurde sogar zur Vorlage für Émile Zolas erotischen Roman "Nana" und war viele Jahre die Kurtisane eines der reichsten Männer Frankreichs. Von Marie Geistinger gibt es im Theatermuseum Wien eine Porzellanstatuette, die sie in der Rolle der schönen Helena zeigt: Der hochgeschürzte Rock erlaubt tiefe Einblicke, die als Darstellung eines Stars, einer Operettendiva, heute verwundern.
Neben der sexuellen Freizügigkeit war auch von Anfang an ein Durchbrechen von Gendernormen ein Merkmal der Operette. "Crossdressing" war beliebt. Besonders gern gesehen waren Frauen in Männerkostümen, da dabei die Beine auf eine Art und Weise präsentiert werden konnten, wie es damals im respektablen Rahmen nicht möglich gewesen wäre. Doch es gibt ähnlich viele Beispiele dafür, dass Männer in Frauenrollen auftraten und auch dadurch Gendervorstellungen verschwimmen ließen. Außerdem vertauschte die Operette typische Rollen-Klischees. "Die Lustige Witwe" von Franz Lehár zum Beispiel spielte zwar nicht mit der erotischen Operettentradition, führte dafür aber explizit ein neues Gendermodell in die Operette ein: Die Frau hat das Sagen und kann entscheiden, wen sie heiratet. Die Operettenbühne bot also eine Plattform für einen neuen Blick auf gesellschaftliche Themen, auf Sexualität, Gender und die Rolle der Frau.
Wieviel Erotik darf und soll Operette heute zeigen, wie anzüglich und provokant möchte das Publikum die Unschuld vom Lande dargeboten bekommen? Es ist Zeit, gemeinsam mit dem Berliner Operettenforscher Kevin Clarke, mit Marie-Theres Arnbom vom Wiener Theatermuseum, mit den Regisseuren Barrie Kosky und Lotte de Beer und der Sopranistin Annette Dasch eigene Vorurteile zu überdenken, lang verdrängte und ignorierte Aspekte einer unterschätzen Musikgattung zu beleuchten, die originalen Libretti zu lesen, die lustige Witwe und ihre schillernde Verwandtschaft kennenzulernen und sich von subtiler und manchmal auch obszöner Erotik verzaubern und amüsieren zu lassen.
In der Sendung "KlassikPlus" am Freitag, 23. Juni ab 19:05 Uhr und am Samstag, 24. Juni ab 14:05 Uhr auf BR-KLASSIK.
Einen großen Einschnitt für die Operette stellte das Dritte Reich dar. Nicht nur, dass jüdische Autor:innen und Komponist:innen umgebracht und ihre Werke von den Spielplänen verbannt wurden. Auch die erotischen, anzüglichen Elemente wurden aus den Werken gestrichen, die Operetten verstümmelt. Nach 1945 behielt man diese Operettenauffassung bei. In der Nachkriegs-Ästhetik verstand sich die Operette als ein unterhaltendes, schmerzstillendes Mittel, das über den Horror und die Zerstörungen hinwegtröstet, das – heile Welt vorgaukelnd – den Holocaust vergessen machen möchte. In zahllosen Operetten-Heimatfilmen entstand eine – gewissermaßen kastrierte – neue Art der Operette.
Wie willst du da im Leben weiterkommen, wenn du nicht grätschen kannst!
"Die neuesten Noten des Herrn Jaques (sic) Offenbach" aus der Zeitung KIKERIKI, 1865, anlässlich der Wiener Erstaufführung von "Schöne Helena". | Bildquelle: ©Archiv des Operetta Research Center Amsterdam Operette ist eine sich ständig verändernde Projektionsfläche für Forscher:innen, Musiker:innen, Regisseur:innen und das Publikum. Es gibt kein Richtig und Falsch. Doch wenn Theatermacher Operetten inszenieren und sie aus der "gewohnten" Biederkeit herausholen, an die Traditionen aus Paris, Wien oder Berlin anknüpfen, müssen sie sich mit Vorwürfen der "Modernisierung" auseinandersetzen und laufen Gefahr, einen Teil des treuen Publikums zu verlieren. Andererseits bietet die Operette die Möglichkeit, aktuelle Themen wie Sexualität, Prüderie, Frauenbilder und Gendernormen auf die Bühne zu bringen und auf eine unterhaltsame Weise zu präsentieren – ein schwieriger Spagat, den die Operette leisten muss. Doch wie heißt es in Paul Abrahams Operette "Roxy und ihr Wunderteam": Wie willst du da im Leben weiterkommen, wenn du nicht grätschen kannst!
Arnbom/ Clarke [u.a.]: Welt der Operette – Glamour, Stars und Showbusiness. Wien, 2011.
Clarke (Hg.): Glitter And Be Gay. Die authentische Operette und ihre schwulen Verehrer. Hamburg, 2007.
Franke (Hg.): Offenbach und die Schauplätze seines Musiktheaters, Thurnau 1999.
Hohenegg: Operettenkönige. Ein Wiener Theaterroman. Berlin, o. J.
Kracauer: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, Frankfurt a. M., 11937.
Linhardt: Residenzstadt und Metropole. Zu einer kulturellen Topographie des Wiener Unterhaltungstheaters, Tübingen, 2006.
Zola, Émile: Nana
Sendung: "KlassikPlus" am 23. Juni ab 19:05 Uhr und am 24. Juni ab 14:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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