Im niederländischen Utrecht schlägt der Puls der Alten Musik. Nicht nur wegen der über 200 Konzerten und Veranstaltungen, sondern vor allem wegen der außergewöhnlichen Artists in Residence. Die verstehen es, Trends zu setzen.
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Festival-Check
Festival Oude Muziek Utrecht
Mit 220 Konzerten, 145 Ensembles und rund 60.000 Besuchern ist das Oude Muziek Festival in Utrecht am Sonntag zu Ende gegangen. Damit ist es das größte Festival seiner Art. Überzeugt hat das Event aber nicht nur durch seine schiere Masse. Es sind die klug gewählten Artists in Residence und ungewöhnlichen Programme, die das niederländische Grachtenstädtchen zur Herzkammer der Alten Musik machen.
In der "Crocodile Bar" trifft historische Aufführungspraxis auf Variété. | Bildquelle: Foppe Schut Wer hätte etwa gedacht, dass historische Aufführungspraxis auch mitten in einem Berliner Varieté des Jahres 1930 zu Hause sein kann. Just dorthin entführt der deutsche Cembalist und Flötist Michael Hell nämlich sein Publikum. Crocodile Bar nennt er diesen überschäumenden Ort, an dem Exotismus, Artistik und Anzüglichkeiten ihr zu Hause haben. Genauso wie ein Salonorchester mit Cembalo und Musik aus der Barockzeit. Der Schlager "Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre" steht hier ganz selbstverständlich neben Georg Friedrich Händels Arie "Fra l’ombre e gli orroi". Und wenn sich dann noch eine leicht bekleidete, ganzkörpertätowierte Frau einen Nagel in die Nase hämmert, ist das Spektakel perfekt. Trivial ist das Ganze trotzdem nicht, denn die Handlung auf und neben der Bühne dreht sich ganz unaufdringlich um die Anfänge der Alten-Musik-Bewegung wie auch die bedeutsame Rolle von Juden, Homo- und Transsexuellen, die nach der Machtübernahme der Nazis keinen Platz mehr in der Gesellschaft haben sollten.
Solche Glanzlichter sind in Utrecht keine Ausnahmen, sondern eher die Regel. Das Who is Who der Szene gibt sich unter dem Motto "Revival" die Klinke in die Hand: L’Arpeggiata, Vox Luminis, Collegium Vocale Gent oder Les Arts florissants. Auch die Tallis Scholars haben dem Festival wieder ihre Aufwartung gemacht. Sie sind schon seit den Anfängen in Utrecht vor etwa 40 Jahren mit dabei und feierten nun ihr 50. Jubiläum vor Ort – ganz standesgemäß mit einem Josquin-Marathon. Alle 18 Messen haben sie in 8 Konzerten aufgeführt. "Ein Riesenprojekt für alle", gesteht Gründer und Leiter Peter Philipps, "das Publikum eingeschlossen". Doch das war begeistert. "Die Messen sind sehr unterschiedlich, weil sie aus allen Lebensabschnitten von Josquin Desprez stammen", vermutet Peter Philipps den Grund für das Erfolgsformat zu kennen.
Doch mit der musikalischen Qualität allein ist der Erfolg des Oude Muziek Festival Utrecht kaum zu erklären. Eine ebenso wichtige Rolle dürfte die Stimmung in der Stadt spielen. In der Hauptspielstätte des Festivals, dem TivoliVredenburg, gibt es keine ruhige Minute. Zwischen neun Uhr und Mitternacht wird ständig etwas geboten. Über Rolltreppen sind die verschiedenen Säle, Cafés und Bars miteinander verbunden. In den Foyers findet darüber hinaus ein Musikmarkt statt, der zum Flanieren verlockt. Das Publikum fühlt sich hier spürbar wohl. Einen Dresscode sucht man vergeblich. Und auch die Altersstruktur ist gut durchmischt. Wer hier zum A-cappella-Konzert oder zur Indie-Band im Saal nebenan geht, lässt sich mit dem bloßen Auge kaum ausmachen. Warum auch, schließlich weiß auch die Alte Musik zu rocken.
Eindrücklich und im Halbdunkel: die imaginäre Totenmesse mit dem Ensemble "La Tempête" beim Oude Muziek Festival Utrecht. | Bildquelle: Marieke Wijntjes So etwa Graindelavoix unter der Leitung von Björn Schmelzer, die gerne mal als "Polyphoniepunks" bezeichnet werden. In Utrecht haben sie sich eine Messvertonung von Antoine Brumel vorgenommen und sie mit Soundscapes aus Neuer Musik und einer Filmproduktion aus den 1960er-Jahren angereichert, in der gläubige Menschen Steine umarmen ("Il Culto delle Pietre"). Der Titel "Rolling Stones" ist also tatsächlich auch Programm, selbst wenn das Ergebnis etwas gewöhnungsbedürftig ist. Noch effektvoller stellt Artist in Residence Simon-Pierre Bestion die Pracht der Überwältigung in den Fokus seines Schaffens. Im Konzert "La Bomba flamenca" nutzt er mit seinem Ensemble La Tempête den großen Saal des TivoliVredenburg mit seinen steil aufsteigenden Zuschauertribünen bis in den letzten Winkel aus und feiert eine imaginäre Totenmesse mit Werken aus Mittelalter und Renaissance, wie sie die Welt noch nicht erlebt hat. Eine eindrückliche Eröffnung für ein buntes und innovatives Festival, das anschaulich gezeigt hat, wie viel Leben in einem Revival stecken kann.
Sendung: "Tafel-Confect to go" am 3. September 2023 ab 12:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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