Spielsucht, eine uralte Gräfin und ein Geheimnis: In Peter Tschaikowskys Oper "Pique Dame" steckt viel dramatisches Potential. BR-KLASSIK beleuchtet die Hintergründe der Puschkin-Vertonung, die jetzt in München Premiere feiert.
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Beinahe hätte Peter Tschaikowsky dieses Libretto gar nicht vertont. Es stammt von seinem Bruder Modest, gestaltet nach einer Novelle Alexander Puschkins. Erst als der ursprünglich vorgesehene Komponist ausfällt, erkennt Peter Tschaikowsky die Dramatik des Szenariums und erklärt sich bereit, eine Oper daraus zu machen. Noch mehr: Er greift auch aktiv in die Umarbeitung der Vorlage ein und beteiligt sich an der Dichtung. Mehrere Textabschnitte gehen auf ihn selbst zurück. Die literarische Vorlage wird in ihrer inneren Anlage neu geformt, mit theatergerechten Zutaten ausgestattet.
Geradezu auf den Kopf gestellt werden die Motive der Hauptfigur Hermann. In der Novelle ist die Zuneigung Hermanns zu Lisa geheuchelt und nur Mittel zum Zweck. Denn Hermann strebt nach Reichtum. In der Oper dagegen liebt Hermann Lisa wirklich, ist ihr aber sozial nicht ebenbürtig. Deshalb strebt er auch hier nach Reichtum – jedoch in erster Linie, um Lisa zu erobern. Womöglich ist es der materialistische Charakterzug in Puschkins Erzählung, der Tschaikowsky zunächst abgestoßen hat: "Ich suche ein intimes, doch kraftvolles Drama, das auf dem Konflikt von Situationen beruht, die von mir selbst erlebt und gesehen wurden, die mich direkt ansprechen, mich rühren können."
Im Februar 2024 feiert eine Neuproduktion von Peter Tschaikowskys Oper "Pique Dame" an der Bayerischen Staatsoper Premiere – in einer Inszenierung von Benedict Andrews. Einen Vorbericht dazu finden Sie hier.
Szene aus "Pique Dame" mit Marija Slawina als Gräfin, Sankt Petersburg 1890 | Bildquelle: wikipedia commons/Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters
Schon zu Beginn der Oper, die Ende des 18. Jahrhunderts in St. Petersburg spielt, wird der junge Offizier Hermann als zwiespältiger, gebrochener, zerrissener Charakter gezeigt. Als er von seiner heimlichen und hoffnungslosen Liebe erzählt, erfährt er von einer abenteuerlichen Lebensgeschichte einer inzwischen uralten Frau. Die Gräfin ist in ihrer Jugend eine wagemutige Glücksspielerin mit dem Beinamen "Pique Dame" gewesen. Sie soll über ein Geheimnis von drei unschlagbaren Gewinnkarten gebieten. Für Hermann wird es zur fixen Idee, dieses Geheimnis zu lüften. Er hofft, damit das nötige Geld für eine standesgemäße Ehe mit Lisa zu erlangen. Und das tragische Geschehen entfaltet sich, wie es muss.
Bei einem nächtlichen Rendezvous steckt Lisa Hermann ihren Zimmerschlüssel zu. Sein Weg führt ihn durch das Schlafgemach der Gräfin. Vergeblich versucht er, von ihr das Kartengeheimnis zu erpressen: Vor Entsetzen erleidet die Alte einen tödlichen Herzschlag. In einer gespenstischen Vision erscheint sie Hermann später und verrät ihm die drei Gewinnkarten: Drei, Sieben, Ass. Dass die Liebe Hermanns von Geldgier getilgt worden zu sein scheint, lässt Lisa verzweifeln: Sie stürzt sich in den Fluss. Im Spielkasino gewinnt Hermann zwar mit den ersten beiden Karten. Beim dritten Spiel aber setzt er alles auf das Ass, zieht die Pique Dame und - verliert sein Vermögen. Hermann ersticht sich.
Niemals zuvor hat mich je einer meiner Charaktere so leidenschaftlich zum Weinen gebracht.
Die Komposition beendet Tschaikowsky in sechs Wochen, die Orchestrierung nach weiteren drei Monaten. Die Petersburger Uraufführung 1890 mündet in einen Triumph, Tschaikowsky betrachtet das Werk als sein "Chef d’oeuvre". Mit dem Schicksal des tragischen Helden kann er sich identifizieren: "Als ich an Hermanns Tod und den Chor der Spieler gelangte, überkam mich ein solches Mitleid für meinen Helden, dass ich in Tränen ausbrach. Niemals zuvor hat mich je einer meiner Charaktere so leidenschaftlich zum Weinen gebracht. Ich fragte mich, warum – und erkannte, dass Hermann nicht bloß ein Vorwand war, um Musik zu komponieren, sondern ein Mensch, der lebte und Sympathie verdiente."
Peter Tschaikowsky | Bildquelle: picture-alliance / akg-images
Die innere Entwicklung und der psychische Verfall Hermanns stehen zweifelsfrei im Mittelpunkt. In jeder der sieben Szenen erscheint er auf der Bühne, in beinahe jeder Szene hat er eine Arie, einen Monolog oder ein Duett vor sich. Legato und Attacke sind hier genauso verlangt wie Pianokultur und Stehvermögen im Forte, brillante Spitzentöne nicht weniger als detaillierte Phrasierungskunst. Und das ist nicht alles. Der Interpret muss Inneres nach außen projizieren können, das vielfältige Gefühlsspektrum dieses obsessiven Charakters nachzeichnen. Zu vermeiden sind holzschnittartige Kontraste in Einheitslautstärke, zu wünschen sensible Zwischentöne. Eine stimmdarstellerische, keine rein gesangliche Aufgabe für den Tenor.
Für den Librettisten Modest Tschaikowsky ist Lisa eine episodische Rolle. In der Tragödie Hermanns erscheint ihm Lisas Schicksal als störende Nebenhandlung. Daher will er auf das vorletzte Bild, das Lisas Untergang zeigt, verzichten. Der Komponist aber besteht auf dieser Szene und schreibt den Text kurzerhand selbst. Schließlich hat Lisa wegen Hermann ihre Verlobung (mit Jeletzkij) gelöst! An Hermanns Entwicklung muss sie zerbrechen. Ihr Freitod ist die Konsequenz einer seelischen Katastrophe. Lisa – eine Verfallene. Ihre Obsession heißt Hermann. Für den Komponisten ist "Pique Dame" das Drama zweier Menschen: die Geschichte einer zerstörten Liebe.
Die Sopranistin hat ein Frauenporträt mit tiefschwarzem Trauerrand zu zeichnen. Sie hat eine gefährliche Gratwanderung vor sich – Sentimentalität, Larmoyanz und Hysterie lauern drohend am Abgrund. Die Leitlinie für die Interpretation muss heißen: unverstellte, ungekünstelte Darstellung, Beseeltheit und Intensität! Als Stimmtyp ist ein jugendlich-lyrischer Sopran mit dramatischen Reserven gefordert: weder mit zu blassem, anämischem, unterernährtem Timbre noch mit allzu fraulich-reifem Klang.
An der Bayerischen Staatsoper übernimmt nun die litauische Sopranistin Asmik Grigorian die Rolle der Lisa in Tschaikowskys "Pique Dame". Lesen Sie hier ein Interview mit Asmik Grigorian.
War sie seine "Pique Dame"? Nadeschda von Meck, langjährige Freundin und Mäzenin Tschaikowskys | Bildquelle: picture-alliance/dpa
Den unheilvollen Schatten, der auf Lisa und Hermanns Schicksal lastet, wirft die Titelfigur der Oper – die "Pique Dame" genannte Person. Die alte Gräfin ist die Schlüsselfigur des Stücks. Ihre wichtigste Szene steht genau im Zentrum der Partitur, im vierten von sieben Bildern. Hier ereignet sich die verhängnisvolle Begegnung zwischen Hermann und der Alten. Die Charakterrolle ist folgerichtig einer Altistin bzw. Mezzosopranistin zugeordnet, die über ihren stimmlichen Zenit hinaus sein darf, aber immer noch über eindringliche Bühnenpräsenz verfügen muss. Die Kanten und Furchen dieser bizarren Figur dürfen nicht wie unter einem Weichzeichner geschönt werden. Hier muss das Seziermesser spürbar sein, das sonst eher Puschkin führt – nicht Tschaikowsky.
Es gibt die These, dass in der fatalen Konfrontation Hermanns mit der Gräfin, die am Ende für beide tödlich endet, eine Vorahnung von Tschaikowskys Lebensrealität zu sehen sein könnte. Denn kurz vor der Uraufführung von "Pique Dame" vollzieht seine wohlhabende Mäzenin Nadeschda von Meck einen Bruch mit dem Komponisten. Sie kündigt ihm ihre finanzielle Unterstützung auf. Und die Freundschaft! Drei Jahre später stirbt Tschaikowsky, und bald darauf findet auch die für ihn lange Zeit so wichtige Gönnerin den Tod. Steuert etwa die Kunst das Leben?
In der Neuproduktion der Bayerischen Staatsoper ist Peter Tschaikowskys "Pique Dame" mit Asmik Grigorian, Brandon Jovanovich und Violeta Urmana in den Hauptrollen besetzt. Am Pult steht der usbekische Dirigent Aziz Shokhakimov.
BR-KLASSIK überträgt die Premiere live im Radio - am 4. Februar 2024 ab 18:00 Uhr.
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