Die bulgarische Volksmusik ist stark: identitätsstiftendes Kulturgut, nationales Symbol, etwas, worauf die Menschen stolz sind. Darf man diese Musik in einen neuen Kontext stellen? Traditionelle Lieder als Ausgangspunkt nehmen für modernes Komponieren? Das Goethe-Institut Bulgarien hat dazu aufgefordert – mit seinem Projekt "Present Past".
Bildquelle: © Goethe-Institut Bulgarien | Boryana Pandova
Dialog der Kulturen – Aktuelle Projekte des Goethe-Instituts
"Present Past"
Die traditionellen Lieder aus Bulgarien gehen direkt unter die Haut. Feldaufnahmen von Volksmusikforschern aus den 1960er und 1970er Jahren verströmen eine erdige Kraft, archaische Tiefe und eine Direktheit, die einen unmittelbar anspringt. Solche Aufnahmen lagern als musikalische Schätze im Archiv für traditionelle bulgarische Musik des Instituts für Kunstforschung der bulgarischen Akademie der Wissenschaften.
Chico Mello, Komponist | Bildquelle: Goethe-Institut Bulgarien │ © Boryana Pandova Die Menschen in Bulgarien sind stolz auf "ihre Musik" und hüten ihr kulturelles Erbe wie eine Löwenmutter ihre Jungen. Auch wenn die eigentliche Tradition längst verwässert bzw. verwestlicht wurde – durch Ensembles, die das alte Liedgut in die Medienwelt getragen und zu diesem Zwecke verändert haben, sie sollte mehrheitstauglich werden. Insofern gibt es heute zwei Versionen traditioneller Musik: die originale, die nur noch in Archiven lebt und die heutige, "moderne" Folklore. Die Identifikation der Menschen bezieht sich vor allem auf die zweite Ausprägung. Ausgerechnet die nationale, identitätsstiftende Musik in diesen beiden Formen zur Grundlage für zeitgenössisches Komponieren zu machen, ist gewagt. Zumal die traditionelle Musikszene oft in starren Strukturen feststeckt.
Die Traditionen sind oft hierarchisch. Das ist das Problem.
Das Goethe-Institut Bulgarien mit Sitz in Sofia wollte es dennoch probieren und hat zwei Komponisten beauftragt, Stücke zu schreiben, die sich auf traditionelle, bulgarische Musik beziehen: den Deutsch-Brasilianer Chico Mello und den bulgarischen Komponisten Peter Kerkelov.
Beide Komponisten haben sich Aufnahmen aus dem Archiv für traditionelle, bulgarische Musik des Instituts für Kunstforschung der bulgarischen Akademie der Wissenschaften in Sofia angehört und was Eigenes daraus gemacht. Dem Deutsch-Brasilianer Chico Mello war es ein Anliegen, den Entstehungsprozess gemeinsam zu gestalten – Raum zu lassen für die Bedürfnisse und Besonderheiten der Mitwirkenden. In den Proben wurde diskutiert, probiert, verworfen, Neues gesucht und gefunden. Gleichzeitig hat der Komponist versucht, den Künstlerinnen und Künstlern seine Vision der "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" nahe zu bringen.
Mitglieder des Chores der Nationalen Musikakademie Bulgariens | Bildquelle: Goethe-Institut Bulgarien │ © Boryana Pandova Es erklingen drei Vokalstile gleichzeitig: originale Tonbandaufnahmen bulgarischer Volkslieder aus den 1960er und 1970er Jahren, zeitgenössische Opernklänge und die heutige bulgarische Folklore-Chor-Musik mit ihrer ganz eigenen Faszination – ein Exportschlager, der in vielen Ländern läuft. Mello vereint in seiner Komposition diese drei Stile, belässt sie aber gleichzeitig in ihrer jeweiligen Identität. Es geht eben nicht um Verschmelzung, um Angleichung, sondern um echten Dialog: Jede und jeder bleibt bei sich und tritt in Beziehung zum anderen – das ist mehr als ein kompositorisches Mittel. Es ist ein gesellschaftliches Modell, das sogleich Missverständnisse auf den Plan ruft.
Komponist Chico Mello ist sich der Fallhöhe bewusst und hat sein Werk in einen Zyklus namens "Multikulturelle Missverständnisse" eingebaut. Nicht ahnend, dass die Missverständnisse dieses Mal gravierend sein würden. Mehrere Gadulkaspieler – die Gadulka ist ein bulgarisches Nationalinstrument, welches der Laute ähnelt, aber gestrichen wird – sind während der Proben abgesprungen. Sie konnten offenbar die Musik Mellos nicht mit ihrem Verständnis bulgarischer Folklore vereinbaren – ihr Argument: "Mit der bulgarischen Folklore spielt man nicht".
Viktoriia Vitrenko | Bildquelle: Goethe-Institut Bulgarien │ © Boryana Pandova Das Projekt "Present Past", angestoßen von der früheren Leiterin des Goethe-Instituts Bulgarien, Marina Ludemann, hat also ein Tabu berührt: die Volksmusik als nationales Symbol. Genau darum geht es: Welche Rolle spielt mein Heimatland für meine Identität? Welche Bedeutung haben nationale Stile und Symbole? Für die ukrainische, in Berlin lebende Sängerin Viktoriia Vitrenko, die in beiden Kompositionen die Solopartien übernommen hat, ist diese Frage nicht nur für das Projekt, sondern auch aus persönlicher Sicht wichtig.
Wer bin ich? Wie kann ich mich in einem fremden Land positionieren?
In den Balkanstaaten ist "Identität" ein sensibles Thema, denn "die Suche nach einer Nationalidentität ist in den Balkanstaaten meist verbunden mit dem Verleugnen eines Teils der eigenen Geschichte" – so schreibt das Goethe-Institut zu seinem Projekt. Man könne ein schwieriges Ringen um kulturelle Identität in der Region beobachten. Das Projekt "Present Past" mit der Uraufführung von zwei Kompositionen zum Thema "Nationale Identität" hat den wunden Punkt berührt, aber gleichzeitig Raum für Wiederentdeckung und Neues geöffnet – zum Beispiel für die Frage: Wie klingt mein persönliches Volkslied?
Peter Kerkelov | Bildquelle: Goethe-Institut Bulgarien │ © Boryana Pandova Dem geht Peter Kerkelov nach in seiner Komposition "Songs of the primitive I" für Solosopran und Chor sowie Elektronik. Peter Kerkelov, der auch für das Konzept zu "Present Past" verantwortlich zeichnet, ist Ethnomusikologe und daher tief drinnen in der Materie Volksmusik. Er hat hohen Respekt für die überlieferten Lieder und verzichtet deshalb auf direkte musikalische Zitate. Vielmehr versucht er das, was durch die Verwestlichung der Volksmusik verloren gegangen ist, zurückzuholen: den rituellen Charakter, die Mystik. So möchte er die traditionelle Musik, die in ihrer ganz ursprünglichen Ausprägung längst verloren gegangen ist, wieder beleben, zurück in die Gesellschaft holen. Damit eckt er nicht nur bei konservativen Kräften der Folkloreszene, sondern auch innerhalb der Neue-Musik-Szene an.
In der Neuen Musik herrscht die Auffassung, dass die Arbeit mit traditioneller Musik etwas Altmodisches sei.
Das, was Peter Kerkelov kompositorisch liefert, ist alles andere als altmodisch: "Songs for the primitive I" sind berührende Lieder, die er "seine persönlichen Volkslieder" nennt. Musik, die das Einfache sucht – als Gegenentwurf zu unserer hochkomplexen, kopfgesteuerten Welt.
Gergana Dimitrova | Bildquelle: Goethe-Institut Bulgarien │ © Boryana Pandova Auch wenn es beim Projekt "Present Past" viel Skepsis und Ablehnung gab: Wer durchhielt, hat am Ende viel gewonnen: die Freude daran, gemeinsam etwas ganz Neues zu schaffen, das konstruktive Austragen von Konflikten und eine veränderte Wahrnehmung der eigenen, traditionellen Musik. Gergana Dimitrova, deren Eltern beide traditionelle, bulgarische Musik gesungen haben, ist glücklich, sich auf den kreativen Prozess im Projekt "Present Past" eingelassen zu haben – auch wenn sie anfangs "geschockt" war von dem Vorhaben der Komponisten. Sie selbst wagt es ja auch mit ihrer Band Belonga, das Alte und Neue zu vereinen und landet damit gut beim Publikum. Für sie ist das Zusammenführen von Musik aus Gegenwart und Vergangenheit – "Present Past" – etwas sehr Kostbares.
Das ist ein enormer Gewinn. Ich bin der festen Überzeugung, dass Musik vorankommt, wenn Kulturen sich vereinen.
"Present Past" läuft weiter. Denn das Musikprojekt ist nur eines von drei Modulen, in denen es vor allem um die Identitätsfrage in den Südosteuropäischen Staaten geht. Das Goethe-Institut Athen produziert eine Fotoausstellung zum Thema "Rituale". Außerdem soll, koordiniert vom Goethe-Institut Kroatien in Zusammenarbeit mit den Goethe-Instituten in Belgrad, Sarajevo und Skopje, eine Briefkette angestoßen werden – bestehend aus Texten, Fotos und Zeichnungen. Ziel ist, Autoren und Autorinnen der beteiligten Länder in Austausch zu bringen und zu einem multiperspektivischen Meinungsaustausch anzuregen. Auch ist geplant, das Konzert mit den beiden Auftragskompositionen von Chico Mello und Peter Kerkelov an weiteren Orten aufzuführen.
Sendung: "Musik der Welt - Basar" am 6. April 2024 um 23:05 Uhr auf BR-KLASSIK