Igor Strawinskys Moritat um einen Wüstling nach den berühmten Kupferstichen von William Hogarth aus dem 18. Jahrhundert gelingt am Staatstheater Augsburg als zeitgemäßes Moralstück.
Bildquelle: Jan-Peter Fuhr
Die Völlerei, auch als Raffgier oder Unersättlichkeit bekannt, hält der Papst aus gesellschaftlicher Sicht ja für die gefährlichste aller Todsünden, wie er kürzlich bei einer Generalaudienz in Rom sagte. So gesehen ist Igor Strawinskys Fabel vom Untergang eines Wüstlings, "The Rake`s Progress", das Stück der Stunde, geht es doch um einen haltlosen jungen Mann, der sich dem Teufel ausliefert und nicht genug bekommen kann von den Genüssen dieser Welt. Ja, was so altmodisch mit Fanfarenklang beginnt, das erinnert an Goethes "Faust", und auch hier gibt es eine selbstlos liebende Frau, die das Gute symbolisiert und den bösen Tom in letzter Sekunde doch noch vor der Hölle bewahrt, auf dass der Teufel sich ärgert bis in alle Ewigkeit.
Bildquelle: Jan-Peter Fuhr Klar, das erinnert an die Moritaten, wie sie früher auf Jahrmärkten aufgeführt wurden, als Schausteller mit dem Zeigestab auf schauerliche Bilder deuteten, auf dass das Publikum mit offenen Mund Auf- und Abstieg der Helden verfolgte. Regisseur Jan Eßinger, sein Bühnenbildner Nikolaus Webern und Kostümdesignerin Lena Brexendorff orientierten sich am Staatstheater Augsburg denn auch an Optik des Budenzaubers: Die Drehbühne gab den Blick frei auf immer neue kleine Guckkästen, vom paradiesischen Liebesgarten, in dem alles beginnt, über eine Art "Bablyon Berlin"-Partygesellschaft und einen zugerümpelten Auktionssaal bis hin zum nebelverhangenen Gottesacker, wo der Teufel auf seine Beute lauert. Der Papst spielt übrigens auch mit, aber nur als Karikatur und Hohepriester des Konsumwahns, was wohl weniger religionskritisch gemeint war, sondern unterstreichen sollte, dass manche Zeitgenossen nur noch an Rabatte und 14-tägige Rückgaberechte glauben.
Zwischendurch darf Tom Rakewell, dieser gefühlskalte Lebemann sogar in Downing Street No. 10 residieren, also dem Amtssitz des britischen Premierministers - naja, jedenfalls ist die Hausnummer gewiss kein Zufall. Dass sich Tom dorthin jede Menge Pakete liefern lässt, Zeichen seiner unersättlichen Konsumhaltung, ist ebenso schlüssig wie seine Ehe mit einer bombastisch aufgemachten Schaustellerin - Baba die Türkin genannt, die aussieht, als ob über ihr soeben ein Hexenhäuschen zusammengebrochen ist mit all dem Zuckerwerk und den Köstlichkeiten. Womöglich ist sie auch nur in ein paar Torten gesprungen.
Alle Informationen zur Inszenierung am Staatstheater Augsburg finden Sie hier.
Das alles ist so sinnbildlich illustriert, wie es sich für ein Moralstück gehört, wobei Jan Eßinger immer noch ironisch genug ans Werk geht, um den Zeigefinger nicht allzu aufdringlich Richtung Himmel zu weisen - sonst wäre es das reinste Passionsspiel geworden, wo der böse Tom doch tatsächlich in der Irrenanstalt endet. Szenisch ist das alles überzeugend, zumal die Bühne des Augsburger Staatstheaters im Texilviertel bekanntlich sehr provisorisch ist und nicht viel technischen Schnickschnack erlaubt.
Bildquelle: Jan-Peter Fuhr Auch musikalisch ist diese Moritat in jeder Hinsicht und im eigentlichen Wortsinn "stimmig". Womöglich hätte Dirigent Domonkos Héja hier und da noch etwas mehr satirischen Biss hineinbringen können, denn Strawinsky orientierte sich ja tatsächlich am Barocktheater, ein Retro-Kunstgriff, der ruhig noch etwas schräger hätte klingen können. So wirkte es streckenweise wirklich, also ob ein spanischer Erzkatholik Erbauungsmusik zu Papier gebracht hatte. Der südkoreanische Tenor Sung min Song in der Titelrolle des verruchten Tom Rakewell und seine Landsfrau Jihyun Cecilia Lee als selbstlose Anne begeisterten mit ihren makellosen Stimmen und ungewöhnlich intensivem Spiel.
Shin Yeo als Nick Shadow, auch er Südkoreaner, hätte als Teufel noch etwas diabolischer auftreten können: So richtig gefährlich schien er nicht, mit Aktentasche und Kartenspiel. Auch stimmlich klang er baritonal freundlich, statt rabenschwarze Tiefe ahnen zu lassen. Aber vielleicht lag es auch daran, dass hier lauter Allegorien auf der Bühne stehen, Sinnbilder für Gut und Böse, keine lebensnahen Charaktere. Der Chor machte seine Sache gut, schließlich muss er blitzlichtartige Auftritte absolvieren, wie es eine Moritat mit jeweils kurzen Episoden nun mal vorschreibt. Und die Moral, die hier so wichtig ist? Satt macht nicht die Völlerei, sondern allenfalls die Liebe. Allerdings hätte Strawinsky das auch in etwas weniger als drei Stunden rüberbringen können.
Sendung: "Allegro" am 22. Januar 2024 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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