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Tabubrüche in der Oper Von Ehebruch bis Kindermord

Inzestuöse Paare, mordlustige Mütter oder hemmungslose Ehebrecher – an moralisch fragwürdigen Figuren mangelt es der Opernliteratur definitiv nicht. Wieso aber gibt es so viele Tabubrüche in der Oper?

Michael Volle (Don Giovanni) und Elsa Dreisig (Donna Elvira) sitzen bei einer Fotoprobe zur Oper «Don Giovanni» auf der Bühne der Staatsoper Unter den Linden. Das Stück feiert am 02. April 2022 Premiere. | Bildquelle: picture alliance/dpa | Jörg Carstensen

Bildquelle: picture alliance/dpa | Jörg Carstensen

Interessant ist zunächst der Unterschied zwischen einem Tabu und einem Verbrechen. Denn während Mord oder Diebstahl juristisch im Strafgesetzbuch geregelt sind, handelt es sich bei Tabus meist um ungeschriebene Gesetze, die ein moralisches Wertesystem spiegeln. Fremdgehen etwa wird zwar nirgends strafgesetzlich verboten, gilt aber doch als rote Linie in den meisten Partnerschaften.

Tabus sind ungeschriebene Gesetze

In der Oper, wie überhaupt im Theater, können solche Tabus verhandelt, kommentiert und hinterfragt werden. In Mozarts Oper "Don Giovanni" geht es etwa fast pausenlos darum, wie der Titelheld eine Frau nach der anderen zu verführen versucht, wobei er weder vor physischer Gewalt noch vor der "heiligen Ehe" haltmacht – verführt er doch im Falle Zerlinas sogar ein Bauernmädchen am Hochzeitstag.

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Don Giovanni: “Là ci darem la mano” | Bildquelle: Metropolitan Opera (via YouTube)

Don Giovanni: “Là ci darem la mano”

Was macht solche moralischen Eskapaden fürs Musiktheater so pikant? Im Geiste Aristoteles könnte man zunächst die "Katharsis" beschwören, die Vorstellung der reinigenden Wirkung des Theaters. Dahinter steckt die Überzeugung, dass ein Mensch im Theater seine negative Energie ausleben kann, indem er ausgiebig Lügen, Morden, Fremdgehen und Zetern emotional miterlebt – und dafür im echten Leben umso artiger bleibt. Die Musik wird in der Oper zum emotionalen Geschmacksverstärker und intensiviert das Erlebnis (ob Don-Giovanni-Fans folglich treuere Ehen führen, sei an dieser Stelle einmal vorsichtig in Frage gestellt).

Theater kann Themen enttabuisieren

Inszenierung "La Traviata" an der Wiener Staatsoper | Bildquelle: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn Szene aus "La Traviata" an der Wiener Staatsoper 2021 | Bildquelle: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn Es gibt allerdings noch einen anderen Grund, warum Tabubrüche auf die Opernbühne gehören: Denn anders als am Küchentisch oder in der Stammtischrunde gibt es hier zunächst einmal keine Denkverbote – schließlich sprechen und singen auf der Bühne offensichtlich Kunstfiguren, die sich folglich auch nicht um soziale Brandmarkung scheren müssen. So können im Theater auch Themen angesprochen werden, die in der realen Welt gerne totgeschwiegen, ergo "tabuisiert" werden. Beispiele dafür gibt es reichlich: inzestuöse Gelüste zwischen Siegmund und Sieglinde in Wagners "Walküre", Prostitution am Beispiel der Violetta in Verdis Oper "La Traviata" oder Solidarität mit einer Kindsmörderin in Charles Gounods Oper "Margarethe".

Solidarität mit einer Kindsmörderin

Erzählt wird bei Gounod die alte Faust-Tragödie nach Goethe: Faust verführt Gretchen mit Hilfe des Teufels Mephistopheles, sie wird schwanger und tötet ihr neugeborenes Kind. Ein absolutes Tabu! An Kindermord darf man ja nicht einmal denken… Und was macht Gounod? Er "zwingt" seinem Publikum geradezu Empathie auf, indem er Gretchen als frommes Mädchen und Opfer darstellt. In der Kerkerszene im fünften Akt fleht sie etwa alle himmlischen Heerscharen um Gnade und Erbarmen an und sinkt reumütig auf den Boden – statt mit Faust zu fliehen, der sie eigentlich gerade befreien möchte.

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Gounod: Faust (Final de la opera) | Bildquelle: intermezzofan (via YouTube)

Gounod: Faust (Final de la opera)

Damit lenkt Gounod mindestens indirekt den Blick auch auf eine Gesellschaft, die (neben Faust versteht sich) eine Mitschuld trägt: Denn erst ihre Tabuisierung von Sex vor der Ehe hat das Verbrechen begünstigt.

Von Werkkritik bis Satire – Tabubrüche in Inszenierungen 

Eine besondere Rolle kommt auch der Inszenierung zu. Diese kann einerseits bestärken, was schon in der Handlung steckt – dabei aber auch das Werk selbst hinterfragen oder kritisieren, falls darin etwa faschistische oder sexistische Aspekte auftauchen, die aus heutiger Perspektive einen Tabubruch darstellen. Der schwarze Außenseiter "Otello" bei Verdi wäre ein solcher Problemfall, die dümmlich-naiv gezeichneten Blumenmädchen in Wagners "Parsifal" – oder die Verharmlosung einer Gewalttat: In der "Entführung aus dem Serail" etwa erzählt Mozart eine komödiantische Geschichte um die Verschleppung Konstanzes in ein Serail.

Calixto Bieito inszeniert mit Blut, Gewalt und Sexszenen

Calixto Bieito verlegte die Story für seine Berliner Inszenierung vor einigen Jahren in ein Bordell: mit reichlich Blut, Gewalt und Sexszenen auf der Bühne. Er wollte damit verdeutlichen: Sexualisierte Gewalt und Menschenhandel sind keine lustige G'schicht, sondern hässliche Realität – und davon darf auch die zuckrigste Rokoko-Musik nicht ablenken. Manch ein Zuschauer witterte darin schon einen Tabubruch: "Schmeißt den Regisseur raus" schallte es da am Ende durchs Publikum. Das Spiel mit der Moral sorgt eben für heiße Gemüter – das macht die Oper so spannend.

Sendung: "Leporello" am 24. April ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (1)

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euphrosine

Spiel mit der Moral?

Bemerkenswert, dass insbesondere bei Operninszenierungen immer von "Tabubruch" die Rede ist, wenn Regisseure etwas darstellen, was einem heutzutage sowieso von jeder zweiten Internet-Seite entgegenplärrt.
How come?
Haben sich derlei Kommentare schlicht im Jahrhundert verirrt, oder wird hier gefordert, dass es einfach kein Entrinnen gebe, nirgends? Wer es gewohnt ist, alles Widerliche oder gar Grauenhafte niemals mitzuempfinden oder gar potentialiter auf sich selbst zu beziehen, wird es gutieren können. Hässliche Realität ist eben alternativlos, nict wahr; und das muss man schlucken, Punkt.

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