Die Opera Incognita ist ein Künstlerkollektiv, das seit 2005 für Operninszenierungen der etwas anderen Art steht: ungewöhnliche Spielstätten wie ein Schwimmbad in Kombination mit Opernstoffen, die man nicht unbedingt kennt. "La Traviata" von Giuseppe Verdi ist eine der meistgespielten Opern überhaupt. Ausgerechnet diese Oper feiert am 14. April eine Opera Incognita-Premiere in Dorfen. Ein absolutes Novum dabei: Die Hauptrolle der Violetta übernimmt eine Dragqueen.
Bildquelle: opera incognita/Aylin Kaip
Kurzes Gedankenspiel: Ein Sohn einer gehobenen Familie eröffnet seinem Vater eines Tages, dass er seine einzig wahre Liebe kennengelernt hat. Einen Mann. Dieser Mann verdient sein Geld ausgerechnet damit, sich als exzentrische Diva, als Dragqueen zu kostümieren und zu performen. Wie würde der Vater wohl reagieren? Für die Leiter der Opera Incognita, Andreas Wiedermann und Ernst Bartmann, ist das die perfekte Übersetzung einer modernen "Traviata" – mit angemessener gesellschaftlicher Sprengkraft.
Das Werk war damals schon eine Art Aufruf gegen Intoleranz. Das ist ein völlig zeitloses Thema.
Reizpunkt der Intoleranz und Hauptperson ist bei Verdis Original die Kurtisane Violetta, die schillernde Liebhaberin bei höfischen Festen. Eine Dragqueen als Violetta bringt genau diesen Glanz und Glamour mit sich, aber eben auch eine vergleichbare gesellschaftliche Reibung. Die Violetta – beziehungsweise den Violetto – mit einem Mann zu besetzen, ist dazu ein absolutes Novum, das alte Seh- und Hörgewohnheiten des Publikums provoziert und vielleicht auch etwas Komisches an sich hat.
Coutertenor und Dragqueen Uri Elkayam in Opera Incognita-Inszenierung von "La Traviata" | Bildquelle: opera incognita/Aylin Kaip Violetta und Violetto wird gespielt von Uri Elkayam. Der israelische Countertenor ist eine erfahrene Dragqueen und tritt weltweit auf. Für die Traviata hat er seine eigenen Kostüme dabei. Pailletten und Strasssteine sind ein Muss. Die Haare changieren je nach Szene von blond bis knallpink. Der Begriff DRAG ist die Abkürzung für: "dress as a girl" – also "angezogen wie ein Mädchen". Rund drei Stunden dauert Uri Elkayams Transformation zur Diva. "Du modifizierst deine Augenbrauen, deine Nase, machst dir größere Lippen", erklärt Uri Elkayam. "Man erschafft sein Gesicht neu und auch den Körper mit einem BH zum Beispiel. Man wendet all die Tricks an, um dem Publikum eine echte Illusion einer Frau darzubieten."
Man wendet all die Tricks an, um dem Publikum eine echte Illusion einer Frau darzubieten.
Aufwendige, knallige Kostüme, Männer, die Frauen sind und andersherum. Das gehört seit Beginn an zur Oper. Das weiß auch die Opera Incognita. Doch gerade hohe Männerstimmen ist barocke Vergangenheit. "La Traviata" fällt als eine der klassischen Belcanto-Opern des 19. Jahrhunderts bereits aus dieser Tradition. Auch die heute bekannten Countertenöre wie Philippe Jaroussky singen eher Barockes als Belcanto-Arien.
Szene aus "La Traviata" in der Inszenierung der Opera Incognita | Bildquelle: opera incognita/Aylin Kaip In Verdis "La Traviata" Männlein und Weiblein zu tauschen, scheint also auch eine Provokation auf musikalischer Ebene zu sein. Der musikalische Leiter Ernst Bartmann ist jedenfalls von dieser Idee überzeugt: "Ich denke, wir haben mit Uri die genau richtige Besetzung gefunden. Er hat eine sehr runde, volle Stimme, die wunderbar für dieses Repertoire passt." Bartmann hat für die Countertenor-Besetzung einige Nummern transponiert, Chor und Orchester wurden auf Kammerformation eingedampft. Passend dazu bleibt das Bühnenbild auf die menschlichen Beziehungen und ihre Konfliktherde fokussiert.
Im Laufe des Stückes bröckelt der Telenovela-Trash samt Barbie-Haus, sowie das Make-Up der Dragqueen. Countertenor Uri Elkayam zeigt eine Violetta, die denkt, sie würde nicht genügen und keine Liebe verdienen. "Es ist eine Liebesgeschichte, mit der sich alle identifizieren können", so Uri Elkayam.
Es ist eine Liebesgeschichte, mit der sich alle identifizieren können.
Trotz allem Heraufbeschwören einer gesellschaftlichen Sprengkraft: Auch in dieser Inszenierung der "Traviata" steht am Ende des Tages eine Liebe im Mittelpunkt, die nicht sein darf, die zweifelt und verzweifelt. Ganz im Sinne der Toleranz für die unterschiedlichsten Formen der Liebe, queer oder nicht, nimmt die Musik einen mit. Dann ist da plötzlich kein Dragqueen-Glamour mehr, kein Geschlecht, sondern nur allzu Menschliches.
Sendung: "Leporello" am 13. April 2023 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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