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Abdullah Ibrahim wird 90 Jahre alt "Meine Heimat ist die Menschheit"

Der Pianist Abdullah Ibrahim, bekannt geworden als Dollar Brand, ist einer der bekanntesten Musiker aus Afrika. Eines seiner Stücke wurde zur Hymne der Anti-Apartheit-Bewegung. 1994 spielte er bei der Amtseinführung Nelson Mandelas. Heute lebt Abdullah Ibrahim vorwiegend im Chiemgau. Am 9. Oktober feiert er seinen 90. Geburtstag.

Der Jazzpianist Abdullah Ibrahim vor seinem Haus in Aschau | Bildquelle: Roland Spiegel

Bildquelle: Roland Spiegel

Ein Klavier. Allein. Wenige Töne. Aber viel Aura. So kann und so konnte man ihn in den letzten Jahren oft erleben: den Pianisten und Komponisten Abdullah Ibrahim. In Solo-Auftritten durchwandert der Musiker gern auf den Tasten Stationen seines Lebens – und zwar ohne Zwischenstopp. Besonders häufig tat er das zuletzt unter dem heimeligen Gebälk eines Veranstaltungssaals in Bayern, genauer: im Chiemgau. Denn in dieser Region hat der Musiker vor inzwischen zwölf Jahren eine Heimat und einen festen Wohnsitz gefunden. Mehrere Solo-Heimspiele nacheinander gibt er seitdem stets in einem kleinen Ort mitten zwischen grünen Hügeln unweit des Chiemsees. Und viele seiner Fans pilgern hin. Dieses Jahr sind es gleich vier Konzerte – denn die ursprünglich geplanten drei waren schnell ausverkauft. Ein Jazz-Weltstar in einem großen bayerischen Hauskonzert: Das wollen sich viele nicht entgehen lassen.

RUHIGE WANDERUNG DURCH EIN LANGES MUSIKER-LEBEN

Er setzt sich an den Flügel, lässt seine auffallend schlanken und sehr langen Hände sanft auf die Tasten sinken – und beginnt mit ganz leisen, langsamen Tönen, aus denen sich allmählich eine Melodie herausschält. Wie eine Landschaft aus Klang wirkt diese Melodie. Der Pianist durchstreift sie, betrachtet sie, immer weitergehend, in aller Ruhe, kommt dann in der nächsten Landschaft an, die er wieder eingehend betrachtet, oft aus Perspektiven, die möglicherweise sogar ihm neu sind. Manchmal dreht er eine kleine Kurve und besucht eine der Landschaften ein zweites Mal. So geht das über eine Konzertstunde lang. Und am Ende hat man den Eindruck, mit Abdullah Ibrahims Melodien durch viele Momente eines langen Musikerlebens geführt worden zu sein. Es sind Momente ganz unterschiedlicher Art, viele davon geprägt durch Ibrahims Heimatland, in dem bis 1990 krasseste Rassendiskriminierung herrschte, auf die dieser Musiker stets mit sanfter musikalischer Nachdrücklichkeit reagierte.

GEBOREN IN KAPSTADT

Abdullah Ibrahim, früher auch bekannt unter dem Namen Dollar Brand, ist ein Musiker mit viel Ausstrahlung und einer langen Geschichte. Heute vor 90 Jahren wurde er unter dem Namen Adolph Johannes Brand in Kapstadt geboren.

EIN KLAVIER BRAUCHT EIN HAUS

Der Jazzpianist Abdullah Ibrahim zu Hause in Aschau | Bildquelle: Roland Spiegel Abdullah Ibrahim vor seinem Flügel | Bildquelle: Roland Spiegel Ibrahim ist eine Ikone des Jazz und der südafrikanischen Musik. Spannend zu erleben, wie sich eine Ikone verhält, wenn man sie besucht – wie mein Kollege Ulrich Habersetzer und ich es vor wenigen Jahren taten. Ein freundlich strahlender Mann im hellblauen Hemd begrüßt uns da mit dem Faustgruß, den er dem Händeschütteln vorzieht, an der Eingangstür. Und bevor wir das geplante Interview anfangen, muss er uns unbedingt sein Arbeitszimmer mit einem sehr edlen Flügel und Blick ins Grüne zeigen. Gleich gegenüber liegt sein Trainingsraum, in den er uns auch führt. Denn Abdullah Ibrahim praktiziert seit Jahrzehnten auch japanische Kampfkunst, die für ihn wie der Zen-Buddhismus, der ihn ebenso lange beschäftigt, ein Weg der Selbstschulung ist. Ein Klavier braucht ein Haus, sagt er, als wir in seinem Arbeitszimmer stehen. Das Haus und das Klavier seien Gründe, weshalb er sich vor einigen Jahren im Chiemgau niedergelassen habe. Der vorrangige Grund jedoch ist seine Lebensgefährtin, eine Ärztin, die aus Italien stammt, aber im Chiemgau arbeitet – und die er in Südafrika kennenlernte. Sie besuchte eines seiner Konzerte. Ihr war gesagt worden, sie solle sich diesen "verrückten Musiker" anhören, sagt Abdullah Ibrahim, und fügt hintergründig lächelnd hinzu: "Und hier sind wir nun." Bei strahlendem Sonnenschein an einem besonders leuchtenden Sommertag und mit Blick hinaus in eine berückend schöne Landschaft fragen wir ihn trotzdem: Ist dieser Ort hier, im Chiemgau, mit Blick auf die Kampenwand statt auf den Tafelberg, Heimat für ihn?

MEINE HEIMAT IST DIE MENSCHHEIT

Und er sagt: "Heimat – das ist kein Haus. Für mich ist Heimat die Menschheit. Ich bin viel unterwegs, gebe Konzerte und kann mich zu Hause fühlen, wo immer ich bin. Zuhause ist der Ort, wo man Gelassenheit findet. Das kann überall sein. Der Ort spielt keine Rolle. Wobei: Dieser Ort hier ist von Bedeutung." Im Original – und mit Blick auf seine Lebensgefährtin: "This Location matters, here."

PRÜGEL FÜR DIE FALSCHE MUSIK

In Kensington, einem Schwarzen-Ghetto Kapstadts, wuchs Ibrahim auf, seine Großmutter spielte Klavier in der örtlichen Kirche. Er selbst nahm im Alter von sieben Jahren Unterricht an dem Instrument. Und bereits mit 15 gab er sein öffentliches Debüt mit lokalen Bands. Das liest sich auf einer Homepage Abdullah Ibrahims wie ein reibungsloser Werdegang, war es aber nicht. Die Wirklichkeit war viel härter, geprägt von Brutalität und Rassismus. Besonders anschaulich erzählte das Abdullah Ibrahim der Berliner Journalistin Maxi Sickert, die sich für die Zeitung "Die Zeit" verschiedene Orte in Kapstadt von ihm zeigen ließ, unter anderem sein Elternhaus in Kensington. Er sei von zu Hause weggelaufen und habe zeitweilig auf der Straße gelebt. In der Schule sei er gut gewesen, habe sogar zwei Klassen übersprungen und eigentlich Medizin studieren wollen. Schwarze durften das aber nicht, auch ein Musikstudium war ihnen nicht erlaubt. Also schlug er sich als Tanzmusiker durch, denn genau das wurde damals von jungen schwarzen Südafrikanern erwartet. Er habe jeden Tag zwanzig Stunden in einer Garage geübt. Wenn er nicht Tanzmusik spielte, sei er verprügelt worden.

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Abdullah Ibrahim, Mukashi Trio Concert | Bildquelle: Library of Congress (via YouTube)

Abdullah Ibrahim, Mukashi Trio Concert

MUSIK DES WIDERSTANDS

Dabei interessierte ihn schon früh der Jazz. Amerikanische Seefahrer gaben ihm einst den Spitznamen "Dollar", da der junge Mann ständig auf der Jagd nach Schallplatten mit amerikanischer Musik war, sofern man sie für einen Dollar kaufen konnte. In den 1950er Jahren begeisterte er sich für den neuen Jazz-Sound aus den USA, den "Bebop", jene hektisch wirkende, wilde Musik mit vielen ungewohnten Intervallsprüngen, die den modernen Jazz hervorbringt. Mit dem Trompeter Hugh Masekela und anderen gründete er schließlich die Jazz Epistles, die erste herausragende Bebop-Gruppe Südafrikas. Als die Apartheid-Politik sich verschärfte und in Katastrophen wie dem Sharpeville-Massaker mündete, bei dem im März 1960 protestierende Männer, Frauen und sogar Kinder von Polizisten erschossen wurden, galt Jazz für das Apartheid-Regime als Musik des Widerstands. Clubs wurden geschlossen, Musiker waren Schikanen ausgesetzt. Eine Band wie die Jazz Epistles konnte da nicht länger existieren. 1962 verließ Dollar Brand mit seiner späteren Ehefrau Sathima Bea Benjamin Südafrika, bald gefolgt von anderen Musikern der Band; Sathima und Dollar gingen zunächst nach Zürich und drei Jahre später in die USA. 1963 schaffte es Sathima Bea Benjamin, den großen Bandleader Duke Ellington für die Musik Dollar Brands zu interessieren, der regelmäßig im Cafe Africana in Zürich spielte. Daraufhin förderte Ellington das Dollar Brand Trio nach Kräften, vermittelte unter anderem Aufnahmen in Paris: "Duke Ellington presents the Dollar Brand Trio", hieß die Platte, die dabei entstand. Vieles also fing für Abdullah Ibrahim alias Dollar Brand mit Duke Ellington an.

MANNENBERG, DIE ANTI-APARTHEID-HYMNE

1974 setzten Abdullah Ibrahim und seine Musiker ein Stück in die Welt, das zur Hymne der Anti-Apartheid-Bewegung werden sollte. Dieses Stück heißt "Mannenberg". Ibrahim ging mit einigen jungen Musikern ins Studio in Kapstadt. Es gab ein paar vorbereitete Stücke, aber dann, als die Musiker kurz Pause machten, ging Abdullah Ibrahim an ein sehr einfaches Klavier, das außer einem Konzertflügel in diesem Studio stand, und spielte ein paar Töne. Sie klangen metallisch hart, denn damals war es üblich, die Hämmer eines Klaviers mit Reißnägeln zu präparieren, um diesen speziellen Klang zu erzeugen, der an die traditionelle südafrikanische "Marabi"-Musik erinnert. Schließlich stiegen, sagt Ibrahim, die anderen ein und improvisierten dazu. Und so entstand dann diese Aufnahme. Sie benannten das Stück nach einem der ersten Townships für zwangsumgesiedelte Schwarze. Dann boten sie es Plattenfirmen an, aber niemand habe es gewollt. Rashied Vally, ein Freund Ibrahims, der die Aufnahme produziert hatte, besaß in Johannesburg einen kleinen Laden an einer Ecke, wo viele Busse ankamen, und beschallte mit dem Stück über Lautsprecher die Fläche vor dem Laden. "Und wir verkauften 20.000 Exemplare in einer Woche", sagt Ibrahim. Später soll ein Anwalt eine Aufnahme des Stücks auf die Insel Robben Island geschmuggelt haben, auf der Nelson Mandela als Häftling einsaß. Worauf Mandela wieder Hoffnung geschöpft haben soll. Mandela kam schließlich im Februar 1990 frei, als der damalige neue Präsident Frederik Willem de Klerk auf Entspannungspolitik setzte. Vier Jahre später wurde Nelson Mandela der erste schwarze Staatspräsident seines Landes. Und Abdullah Ibrahim war es, der bei seiner Amtseinführung spielte.

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Abdullah Ibrahim - Mannenberg (1987) | Bildquelle: arXter (via YouTube)

Abdullah Ibrahim - Mannenberg (1987)

MELODIEN, DIE VOM LEBEN ERZÄHLEN

Was auf "Mannenberg" zutrifft, könnte eine Beschreibung vieler Stücke Abdullah Ibrahims sein: eine einfache Melodie, ein fesselnder Groove und ein völlig eigenständiger Flow. Auch wenn im Falle von "Mannenberg" der Saxophonist Zacks Nkosi fand, das Stück gleiche sehr einem von ihm mit dem Titel "Jackpot", ist eines auffällig: Abdullah Ibrahim hat einen besonderen Sinn für betörend einfache Melodien, die emotional sofort ansprechen. Stücke wie "African Marketplace", "The Wedding", "Whoza Mtwana", "The Homecoming Song" (lauter Kompositionen, die sich auf seinem 1979er Album "African Marketplace" finden), aber auch die Hommagen an seine Tochter ("Tsidi") und seinen Sohn ("Tsakwe") und andere beseelte Stücke wie "The Mountain of The Night" und "Maraba Blue" haben eine stille Kraft wie nur wenige in über hundert Jahren Jazzgeschichte. Hinzu kommen noch weitere Stücke, die auf politische Ereignisse verweisen – wie "Capetown District Six", das an die Zwangsräumung eines multiethnischen Viertels erinnert, das einem Stadtteil für Weiße weichen musste. Vieles, das betont Abdullah Ibrahim immer wieder, hat er von seinem Mentor und Förderer Duke Ellington gelernt.

Bewegende Musik

Für Musikfans auf der ganzen Welt ist Abdullah Ibrahim eine Identifikationsfigur: ein Musiker, der auf gesellschaftliche Gegebenheiten reagiert und zumindest in Südafrika in die Gesellschaft hineingewirkt hat. Ist er denn ein Jazzmusiker? Er sagt: "Jazz ist die höchstentwickelte Musikform in der Geschichte des Planeten." Denn diese Musik sei "Human Activity", die auf Gegebenheiten reagiere, anstatt einen Ablauf möglichst fehlerlos reproduzieren zu wollen. Man müsse diese Musik übrigens nicht unbedingt Jazz nennen – "wir haben uns nie selbst Jazzmusiker genannt", sagt er. Jazz oder nicht, im Falle von Abdullah Ibrahim ist es bewegende Musik. Eine, die zumal in jüngster Zeit, in den langen Nonstop-Konzerten, in denen Abdullah Ibrahim Thema um Thema aneinanderfügt, viel vom Leben erzählt. Und nicht nur von seinem.

Sendungen zu Abdullah Ibrahim

"Leporello" am 9. Oktober 2024 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK

"Classic Sounds in Jazz" am 9. Oktober 2024 ab 19:05 Uhr auf BR-KLASSIK

"ARD Jazz. Das Magazin" am 9. Oktober 2024 in der ARD Audiothek

"Jazz und mehr" am 12. Oktober 2024 auf BR-KLASSIK

Kommentare (1)

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Donnerstag, 10.Oktober, 15:00 Uhr

Philip Trauboth

Konzert Abdullah Ibrahim in Söllhuben am 9.10.19

Ein wunderbares Konzert in kleinem Rahmen beim Hirzinger. Am Ende Standing Ovations für einen Pianisten der es vermag Gefühle zu vertonen und eine tolle, warme Ausstrahlung hat. Er lebt Musik und ist mit 85 jahren bemerkenswert fit.
Ein Genuss und dies im Chiemgau - fantastisch. Frue mich dass ich Ihn mal live erleben durfte und das nochdazu "vor der Haustür".
Übrigens tolle Einleitung des BR- Klassik-Moderators.

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