BR-KLASSIK

Inhalt

NEUE JAZZ-ALBEN, VORGESTELLT IM GESPRÄCH - Vol. 20 Hören wir Gutes und reden darüber!

Beate Sampson, Roland Spiegel und Ulrich Habersetzer überraschen sich und Sie mit aktuellen Jazzalben. Dieses Format wurde mit dem Deutschen Radiopreis 2022 als "Beste Sendung" ausgezeichnet, hier die 20. Ausgabe von "Hören wir Gutes und reden darüber".

Bildquelle: Berthold Records

BR-KLASSIK - Jazztime

kurz Hören wir Gutes Vol. 20 09.05.23

"Hören wir Gutes und reden darüber Vol. 20" hier zum Nachhören - mit aus rechtlichen Gründen gekürzten Musikstücken.
In dieser Sendung haben sich Roland Spiegel, Ulrich Habersetzer und Beate Sampson zum zwanzigsten Mal gegenseitig mit Alben überrascht: Niemand wusste vorher, was die jeweils anderen mitbringen würden. Über folgende drei Alben wurde in der Sendung gesprochen.

Markus Becker: "Regarding Beethoven", Berthold Records BR323123

CD eingelegt - und sofort gebannt. Der Pianist Markus Becker beginnt sein Album "Regarding Beethoven" (das am 19. Mai erscheinen wird) mit Improvisationen, die von Beethovens "Elf Bagatellen" op. 119 inspiriert sind. Gleich in den ersten Momenten des Albums ist das Thema des ersten Beethoven-Stücks präsent - aber nicht mehrstimmig, sondern nur einstimmig. Wie eine isolierte Leuchtspur klingt es hier. Und dann entspinnt sich daraus eine Improvisation, die sehr bald in eine eigene Klangwelt führt: moderner Klavierjazz, dessen Tonsprache Vorbilder wie die Klarheit und sinnliche Kraft etwa der Musik von Keith Jarrett nahelegt. Aber Markus Beckers Musik auf diesem Album wirkt über die Strecke von 46 Minuten mit insgesamt 20 Teilstücken so eigenständig, dass eine Suche nach Vorbildern ohnehin überflüssig wird. Es entfaltet sich eine durchweg eigene Musik-Erzählung, in der immer wieder Beethoven-Assoziationen auftauchen. Die genannten "Elf Bagatellen" greift Becker dabei auf, Motive aus der Cello-Sonate A-Dur und nicht zuletzt auch Motive aus der Klaviersonate op. 57, der berühmten "Appassionata" (der "Leidenschaftlichen"). Becker, ein hochkarätiger Klassik-Interpret, der etwa für eine Max-Reger-Gesamteinspielung 2002 den renommierten "Preis der Deutschen Schallplattenkritik" bekam, außerdem Professor an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover ist, wirft der Zuhörerschaft eben keine "Erkennen Sie die Melodie"-Häppchen hin, die er dann launig zum allzu vertrauten Swingen bringt, sondern er versucht, den Geist der Beethoven-Stücke in zeitgenössische Jazz-Augenblicke überzuführen. Und er überzeugt damit rundum. er geht dabei in manchen Fällen ganz anders vor als die junge deutsche Pianistin Johanna Summer, die sich improvisierend unterschiedlichen Komponisten der Klassikwelt nähert: Doch auch seine Improvisationen sind, wie die Johanna Summers, Musik mit eigener Kraft - und überdies eine schöne Einladung, sich mit den Originalen neu auseinanderzusetzen.

 PJEV/Kit Downes/Hayden Chisholm: "Medna Roso", Red Hook Records RH1003

Cover - PJEV/Kit Downes/Hayden Chisholm: Medna Roso | Bildquelle: Red Hook Records Bildquelle: Red Hook Records Eine Kirchenorgel wummert, diffuse Klänge flirren und dann setzen sie ein: Fünf Frauenstimmen. Ungewöhnlich und zugleich sehr vertraut klingt ihr Lied. Eine archaische Kraft steckt in den Tönen. Die Kirchenorgel schattiert den Gesang auf sonderbare, unkonventionelle Weise. Eine Musik, die erstmal weit weg von dem scheint, was man Jazz nennen kann und trotzdem sehr viel davon in sich trägt. "Medna Roso" heißt das neue Album des neuseeländischen Saxophonisten, Obertonsängers und Musikforschers Hayden Chisholm (bekannt aus der Band "Root 70" des Posaunisten Nils Wogram) zusammen mit dem englischen Organisten Kit Downes und dem Zagreber Frauen-Chor PJEV, geleitet von Sängerin Ivana Lukic. Chisholm zog ungefähr 2016 nach Serbien, erforschte die Volksmusik dort und lernte Lukic kennen. Die Sängerin sammelt traditionelle Gesänge aus Kroatien, Serbien, Bosnien und Herzegowina und führt diese Musik auf, die nur mündlich überliefert wird und deshalb vom Verschwinden bedroht ist. Im September 2021 gab es im Rahmen der "Cologne Jazzweek" ein Konzert in der Kölner St. Agnes Kirche und diese Aufnahme ist nun als Album erschienen. Lieder von Bergen, Bienen und Helden gibt es da zu hören, äußerst subtil begleitet und umrahmt von den Meisterimprovisatoren Chisholm und Downes. Beide nehmen sich sehr zurück, lassen die Kraft der Gesänge wirken und agieren viel mehr als Stimmungsgeber, denn als Hauptstimmen. "Medna Roso" zeigt, dass Jazz als Bindeglied zwischen Kulturen, Klängen und Ländern großartig funktionieren kann, wenn die Menschen bereit sind, die Ohren und die Herzen zu öffnen.

Masaa: "Beit", Traumton Records CD 236762

Cover - Masaa: Beit | Bildquelle: Traumton Records Bildquelle: Traumton Records 2011 haben drei junge, vom Jazz geprägte Absolventen der Musikhochschule in Dresden mit dem zehn Jahre zuvor aus dem Libanon nach Deutschland gekommenen Sänger Rabih Lahoud das Quartett "Masaa" gegründet. "Masaa" ist das arabische Wort für "Abend". Gemeint ist damit aber nicht nur eine Tageszeit, sondern auch die Zeit für zwischenmenschliche Begegnungen, bei denen man sich in Vertrautheit austauscht. Meisterhaft kultiviert hat das Quartett, das seit seiner Gründung nur eine personelle Umbesetzung vorgenommen hat, seinen musikalischen Austausch. Auf seinem fünften Album "Beit" - das ist das arabische Wort für "Heim" oder "Zuhause" -  besticht es ein weiteres Mal mit seiner enormen Energie, spielerischen Strahlkraft und klanglichen Homogenität. In vierzehn eigenen Kompositionen entwickeln die vier Musiker atmosphärisch aufgeladene Spannungsbögen in einer ganz eigenen Tongebung der klar ausformulierten und dabei doch immerzu miteinander verschmelzenden Klänge. Der Trompeter Marcus Rust, der Gitarrist Reentko Dirks, der seiner spezialangefertigten Akustikgitarre mit zwei Hälsen auch wunderbare, lautenartige Töne entlockt und der Schlagzeuger Demian Kappenstein verbinden ihr Spiel zu einer klanglichen Einheit mit Rabih Lahouds expressiver, gesanglicher Erzählkunst, die von der Kraft und Modulationsfähigkeit seiner vollen, dunkel tönenden Stimme ebenso profitiert wie von seiner Fähigkeit zu zartesten, zerbrechlichen Tönen und von seiner enormen Improvisationskunst, die er selbst einmal "Improesie" genannt hat. Der Klang seiner arabischen und französischen Texte fasziniert, und ihre Übersetzungen im Booklet der CD sind ein großes Plus, denn durch sie wird ein noch tieferes Verstehen dieser einzigartigen Musik möglich, die aus der Erfahrung mit nahöstlichen und arabischen Klangwelten, Klassik und Jazz geschaffen ist und rundum fasziniert.

    AV-Player