Beate Sampson, Roland Spiegel und Ulrich Habersetzer überraschen sich und Sie mit aktuellen Jazzalben. Dieses Format wurde mit dem Deutschen Radiopreis 2022 als "Beste Sendung" ausgezeichnet, hier die 29. Ausgabe von "Hören wir Gutes und reden darüber".
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"Hören wir Gutes und reden darüber Vol. 29" hier zum Nachhören.
In dieser Sendung haben sich Beate Sampson, Roland Spiegel und Ulrich Habersetzer zum neunundzwanzigsten Mal gegenseitig mit Alben überrascht: Niemand wusste vorher, was die jeweils anderen mitbringen würden. Über folgende drei Alben wurde in der Sendung gesprochen.
Ein Generationentreffen des Jazz. Zwei Musiker, die einander besonders schätzen. Und die am selben Instrument berühmt wurden, dem Klavier. Es sind: Joachim Kühn, geboren in Leipzig 1944; und Michael Wollny, geboren in Schweinfurt, 1978. Beide sind Jazzpinisten mit ausgeprägt eigenem Profil. Und beide verfügen über einen besonders großen musikalischen Horizont über den Jazz hinaus. Michael Wollny hat einst (2001) seine Diplomarbeit über "Tonwirbel" in den Improvisationen Joachim Kühns geschrieben. Er hat sich also seit langem eingehend mit dessen Musik beschäftigt. Joachim Kühn bewundert den 34 Jahre jüngeren Kollegen ebenfalls, und das mindestens seit ihrer ersten Zusammenarbeit im Jahr 2008. Auf dem Album "Duo" spürt man schon in den ersten Takten, dass hier zwei Pianisten mit großer Lust an musikalischer Verschmelzung am Werk sind. Diese Duo-Begegnung, live mitgeschnitten in der Alten Oper Frankfurt am 23. Januar 1923, ist kein Wettstreit von zwei Alpha-Jazzern, die zeigen wollen, wer der stärkere ist, sondern ein gefühl- und respektvolles Miteinander. Sie improvisieren hier über Themen von Kühn, von Wollny und (in einem Fall) von Ornette Coleman. Besonders bewegend ist das letzte Stück, eine Komposition, die Joachim Kühn seinem wenige Monate vorher verstorbenen Bruder, dem Klarinettisten Rolf Kühn, gewidmet hat; ein Stück voller Innigkeit, die hier auf zwei Flügeln wunderschön aufgeht. Enorm bewegende und kommunikationsstarke Klaviermusik von zwei feinfühligen Meistern.
Bildquelle: Nonesuch Records "Ultramarin", das ist die Farbe, die US-Gitarristin Mary Halvorson ihrer Musik geben würde und dieser tiefe, satte Blauton, passt gut zu Halvorsons Musik - zumindest teilweise. Die Klänge auf dem Album "Cloudward", dem zweiten von Halvorsons Amaryllis Sextet, schillern in allen möglichen musikalischen Farben. Der Blues steckt drin in dieser Musik für Trompete, Posaune, Vibraphon, Kontrabass, Schlagzeug und Giutarre, aber noch ganz viel mehr. Eine klare Nähe zu heftiger Rockmusik ist da, aber auch eine Leidenschaft fürs freie Improvisieren, dann, und damit besticht "Cloudward" besonders, für ein äußerst kompaktes, sehr engverzahntes Ensemblespiel. Manchmal scheint es, als seien hier deutlich mehr Menschen beteiligt als nur sechs. Das Album hat einen starken, ziemlich druckvollen Grundsound, aber Halvorsons Kompositionen sind überraschend unterschiedlich: Mal ein verquerer Tango, dann eine schräge Gitarrenstudie mit herrlich sich überlagernden Effekten, dann ein deftiger Rocker. So klingt aktueller New Yorker Avantgarde-Jazz, der aber durchweg Hörvergnügen macht und, zumindest so Halvorson, immer vom Gefühl des Optimismus geprägt ist.
Bildquelle: Bandcamp Der Titel des Albums und der Bandname - beides ist ein wenig rätselhaft. Wer ist der Shooting Star oder ist vielleicht doch die Sternschnuppe im wörtlichen Sinne gemeint? Und deutet der Bandname REVERSO eventuell darauf hin, dass die Musiker das, was sie künstlerisch machen, als zweite Seite einer Medaille empfinden? Und welche Medaille wäre das dann? Doch diese Fragen sind wie weggefegt, wenn die CD aufgelegt ist, und der Pianist Frank Woeste die ersten Töne spielt, fließend und poetisch; wenn dann der Cellist Vincent Courtois eine hellstrahlende Melodie in sie hineinflicht und schon im nächsten Moment der Posaunist Ryan Keberle in den Dialog mit ihm geht, und sich alle Klänge in tänzerischer Bewegtheit verweben. Schon ist er da: der Sog, der mich über knapp 50 Minuten bei insgesamt 10 Kompositionen in den kammermusikalischen Kosmos dieses exzellenten deutsch-französisch-amerikanischen Trios hineinziehen wird. Schon auf den drei vorangegangenen Studioalben hallte in ihren Stücken die klassische Klangwelt des Impressionismus wider und verband sich mit dem improvisatorischen Vermögen, das die drei als international renommierte Jazzmusiker mitbringen. Nach Maurice Ravel, der Komponistengruppe "Le Six" und Gabriel Fauré, haben sie sich auf ihrem aktuellen Album der Komponistin Lili Boulanger zugewandt. Sie ist ihr "Shooting Star". Mit nur 24 Jahren starb die Multi-Instrumentalistin 1918 und hat doch ein Werk hinterlassen, für das andere in Umfang und Güte Jahrzehnte gebraucht hätten. Sie komponierte für Orchester, Orgel und Chöre, vokale und instrumentale Kammermusik und erschuf eine stilistisch bemerkenswert eigenständige Musik. Von ihr inspiriert und dabei an zwei Stellen direkt auf Teile ihrer Kompositionen "D´un matin de printemps" und "Faust et Hélène" Bezug nehmend, gelingt dem Trio REVERSO ein musikalischer Höhenflug, bei dem sie ein weiteres Mal klarmachen, wie verbunden Jazz und klassische Musik sein können und damit sozusagen zu einer Medaille verschmelzen.