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In die Gambe verliebt Lucile Boulanger

Sie ist der neue Stern am Gamben-Himmel, die BBC hat sie sogar mit der Cellogöttin Jacqueline du Pré verglichen: Lucile Boulanger. Im Gespräch mit BR-KLASSIK verrät sie, wie sie zur Gambe gekommen ist, und was sie mit der Zeichentrickfigur Dora zu tun hat.

Die französische Gambistin Lucile Boulanger | Bildquelle: Alix Laveau

Bildquelle: Alix Laveau

BR-KLASSIK: Lucile Boulanger, Sie haben unglaublich früh begonnen, Gambe zu spielen, nämlich mit fünf Jahren! Normalerweise lernen Kinder in diesem Alter Blockflöte oder Klavier oder allenfalls Geige, aber sicher kein Alte-Musik-Instrument, von dem sogar viele Erwachsene noch nie etwas gehört haben. Wie sind Sie zur Gambe gekommen?

Lucile Boulanger: In Frankreich wird es immer üblicher, direkt mit der Gambe zu beginnen, es gibt ungefähr hundert Gambenklassen in Frankreich. Und ich selbst komme aus einer Musikerfamilie. Bei uns zu Hause gab es viel Alte Musik. Ich habe als Kind mehr Cembali gesehen als Klaviere und mehr Gamben als Celli, für mich war die Entscheidung für die Viola da gamba also etwas völlig Normales. Mit fünf, sogar etwas früher, habe ich im Konzert jemanden Gambe spielen sehen, nicht zum ersten Mal, aber dieses Mal habe ich mich in das Instrument verliebt – und die Spielerin ist für die nächsten zehn Jahre meine Gambenlehrerin geworden. Wenn man so früh anfängt, fragt man sich später allerdings, ob es wirklich so gut ist, wenn man sein ganzes Leben aufbaut auf einer Laune, die man als fünfjähriges Kind hatte. Trotzdem ist es sicher ein Privileg, möglichst früh in einer musikalischen Sprache zu baden.

Es ist ein Privileg, möglichst früh in einer musikalischen Sprache zu baden.
Lucile Boulanger

BR-KLASSIK: Ich habe festgestellt, dass ich Ihre Stimme schon kannte, bevor ich Sie auf der Gambe gehört habe. Mein Sohn hat nämlich früher eine Zeitlang die Zeichentrickserie "Dora" gesehen, auf Französisch "Dora l’exploratrice", und was ich damals nicht wusste: die Stimme von Dora in der französischen Fassung, das ist Ihre Stimme!

Lucile Boulanger: Ja, das stimmt. Auch in diesem Alter, mit vier, fünf Jahren, habe ich angefangen, Kinderrollen in Filmen zu übernehmen. Und ziemlich lange wollte ich auch beide Berufe ergreifen, Musikerin und Schauspielerin. Aber während meiner Schauspielausbildung, vor dem Studium am Konservatorium, hatte ich plötzlich die Nase voll, und da habe mich entschieden, nur Musik zu machen. Und das war ziemlich traurig, denn um mich herum gab es viel Druck und es hieß, dass man eine Wahl treffen muss, dass man nicht gleichzeitig zwei Dinge gut machen kann - aber ich habe lange dagegengehalten! Und ich glaube auch, dass es möglich ist, beides zu machen! Aber irgendwann spürte ich, dass es eher meiner Identität entsprach, voll und ganz Musikerin zu sein. Als Kind habe ich tatsächlich viele Filme gedreht und war Synchronsprecherin. Übrigens braucht man beim Synchronisieren ein sehr genaues Rhythmusgefühl, das ist gar nicht so weit weg von der Musik!

Man darf nicht unterhalb seiner Bestmarke spielen. Je weiter man kommt, desto größer wird der Druck.
Lucile Boulanger

BR-KLASSIK: Wenn man schon in jungen Jahren so oft auf der Bühne steht – hat man dann eigentlich noch Lampenfieber?

Lucile Boulanger: Ja, auf jeden Fall! Wenn man Kind ist, passiert das eher unterbewusst, man merkt nicht so, was auf dem Spiel steht. Scheitern ist da nichts Schlimmes, man fällt halt mal bei einer Prüfung durch. In meiner Familie hatte ich keinen Druck; alles, was mir gelang, war gut, und wenn was schiefging – c’est la vie! Als Kind fällt man immer wieder mal hin. Als Erwachsener steht mehr auf dem Spiel. Wenn man Wettbewerbe gewonnen und ein bestimmtes Niveau erreicht hat, kann man davon nicht mehr runter. Man darf nicht unterhalb seiner Bestmarke spielen. Je weiter man kommt, desto größer wird der Druck, desto größer wird die Angst oder das Lampenfieber. Und das hat auch was Gutes - denn ohne Lampenfieber wäre es auch ein bisschen langweilig.

BR-KLASSIK: Sie spielen oft Musik von einem der größten Gambenspieler des Barock, Antoine Forqueray. Er lebte am Hof von Ludwig XIV., war aber nicht nur berühmt, sondern auch berüchtigt. Was war Forqueray für eine Persönlichkeit?

Die Bogenhand des berühmten französischen gambenvirtuosen Antoine Forqueray auf einem barocken Gemälde | Bildquelle: picture-alliance/dpa Die Bogenhand von Antoine Forqueray | Bildquelle: picture-alliance/dpa Lucile Boulanger: Antoine Forqueray stammt aus einer Musikerdynastie und war ziemlich verhaltensgestört. Das ist gut dokumentiert, denn seine Frau hat die Scheidung eingereicht, was damals absolut selten war. Er war sehr gewalttätig gegenüber seiner Frau, und er hat auch seinen Sohn misshandelt, Jean-Baptiste-Antoine, der selbst sehr virtuos Gambe spielte und die Stücke seines Vaters herausgab. Aber der Vater hat den Sohn ins Gefängnis sperren lassen, offiziell wegen schlechter Sitten, aber in Wirklichkeit aus Neid, weil er den Sohn als Konkurrenten ausschalten wollte. Antoine Forqueray Vater war also offenbar ziemlich verrückt. Ich bin zwar sehr glücklich, seine Musik zu spielen, aber auch sehr glücklich, dass ich nicht mit ihm in Kontakt kommen muss.

BR-KLASSIK: Was reizt Sie an seiner Musik?

Lucile Boulanger: Man kennt ihn üblicherweise für seine Virtuosität. Er hat die Gambe an ihre Grenzen gebracht, indem er sich von der virtuosen italienischen Violinmusik inspirieren ließ. Aber in Wirklichkeit sind seine Stücke sehr unterschiedlich vom Charakter her. Man spielt Forquerays Musik oft so ein bisschen gereizt, weil man die Person im Hinterkopf hat. Aber es gibt in seiner Musik auch viel Zärtlichkeit, viel Theatralik, extreme Effekte, eine wirkliche Tiefe und eine große harmonische Originalität. Das macht viel Spaß.

Sendung: "Tafel-Confect" am 29. Mai 2023 ab 12:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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