San Quentin State Prison, 8. Juli 1936: Der Komponist Henry Dixon Cowell kommt ins Gefängnis. Der Vorwurf: homosexuelle Handlungen. Das war damals noch verboten. Nach vier Jahren kommt Cowell frei. Doch er ist nicht mehr derselbe.
Bildquelle: Wilimedia Commons
Das Kalenderblatt zum Anhören
Jemand musste Henry Cowell verleumdet haben. Denn ohne dass er sich einer Schuld bewusst wäre, wird er eines Morgens im Mai in seinem Häuschen verhaftet. "Orale Kopulation" – so lautet der Vorwurf gemäß Paragraph 288a des kalifornischen Strafgesetzbuchs. Cowell gibt alles sofort zu: Er hatte Sex mit einem jungen Mann, der einen Pool in seinen Garten gebaut hat. Einen Anwalt einzuschalten, hält er für unnötig; schließlich ist noch nie jemand verurteilt worden, seit Oralverkehr 1915 in Kalifornien Straftatbestand geworden ist.
Doch für die Regenbogenpresse ist der Fall ein gefundenes Fressen. Schließlich ist Henry Cowell nicht irgendwer, sondern, wie es John Cage einmal formuliert hat, das "Sesam-öffne-dich der amerikanischen Musik." Der Erfinder von Cluster und präpariertem Klavier. Der Mentor von George Gershwin und Charles Ives. Auf der ganzen Welt berühmt als Vorkämpfer der ultramodernen Musik. Und nun: geoutet als Homosexueller.
Der Fall Cowell kommt auf die Titelseiten. Bald fantasieren die Zeitungen, ob der berühmte Mann wohl auch Minderjährige missbraucht habe. Gutachter diskutieren, ob Homosexualität heilbar sei. Und das Gericht verhängt unter dem Druck der öffentlichen Hysterie schließlich die Höchststrafe: 15 Jahre Haft. Henry Cowell kommt in das berüchtigte Gefängnis San Quentin. Aber er klagt nicht, sondern macht seine Arbeit. Unterrichtet Tausende von Häftlingen in Musikgeschichte. Leitet die Gefängniskapelle. Und darf eine Stunde pro Woche das Klavier zum Komponieren nutzen.
Draußen setzen sich Freunde und Kollegen für ihn ein. Nach vier Jahren, im Juli 1940, wird Henry Cowell auf Bewährung entlassen. Er heiratet die Musikwissenschaftlerin Sidney Robertson, arbeitet für die US-Regierung, wird in die Kunstakademie gewählt. Aber er ist nicht mehr derselbe. Er schwört der Avantgarde ab, seine Musik bekommt folkloristische Züge. Und als ihn der Komponist Conlon Nancarrow Jahre später besucht, erlebt er "eine zutiefst verängstigte Person, immer in dem Gefühl: Sie werden mich erwischen!".
YouTube-Vorschau - es werden keine Daten von YouTube geladen.
The Banshee - Henry Cowell (1925)
Unsere Reihe "Was heute geschah" zu bemerkenswerten Ereignissen der Musikgeschichte können Sie auch um 7:40 Uhr, um 13:30 Uhr und um 16:40 Uhr auf BR-KLASSIK im Radio hören. Weitere Folgen zum Nachhören finden Sie hier.
Sendung: "Allegro" am 08. Juli 2022 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK