Paris, 13. Juni 1923: Igor Strawinskys "Les Noces" wird uraufgeführt. Eine traditionelle russische Hochzeit: Darum geht es in diesem Werk. Klanglich ist aber so gut wie gar nichts in diesem Ballett mit Gesang – vor allem nicht die Besetzung mit Klavieren und viel Schlagzeug. Der Komponist schätzte "Les Noces" über alles.
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(Bild: Igor Strawinsky: ""Les Noces" – Bühnenbildentwurf von Natalia Gontscharowa)
Laut Aussage des Ballett-Impresarios Sergej Djaghilew ist das, was das Publikum an jenem Abend im Pariser Theater Gaité erlebt, die schönste und purste russische Arbeit seiner Ballettkompanie Ballets Russes. Nicht der "Feuervogel", nicht "Le Sacre" – beide ebenfalls von Strawinsky. Djagilew liebt "Les Noces" mehr als jedes andere Werk. Und Strawinsky widmet ihm diese wild klingende Ballett-Kantate, die manche auch als Mini-Oper bezeichnen.
Und darum geht es in "Les Noces": um eine Hochzeitsfeier – in altrussischer Tradition. Das heißt: Erst wird das Brautpaar gesegnet, dann geleitet der Mann die Frau aus ihrem Elternhaus heraus zum Hochzeitsmahl. Ein starres Ritual, dem ein strenges Ehe-Regelwerk folgt, nach dem die beiden nun leben werden. Starr, streng, eng – das trifft auch auf die Choreografie zu, die sich Bronislava Nijinska für die Ballets Russes überlegt hat, die hier am 16. Juni 1923 zu erleben ist. In krassem Kontrast dazu steht die Besetzung: vier solistische Sängerinnen und Sänger, Chor, Schlagzeug und vier Klaviere. Eine klare, mechanische Klangsprache. Dazu ein französischer Titel, "Les Noces", die Hochzeit, obwohl hier alles auf Russisch stattfindet.
Wobei, manchem ist es nicht Russisch genug. Die Volksbräuche zu unauthentisch, die von Strawinsky verwendeten Volksmelodien zu stark verändert. Vor allem den sowjetischen Kritikern im Londoner Publikum, das "Les Noces" drei Jahre nach der Pariser Uraufführung erlebt, stoßen Strawinskys künstlerische Abwandlungen übel auf. Den Schriftsteller Herbert George Wells veranlasst diese ablehnende Haltung damals zu einer Brandrede: "Ich kenne kein anderes Ballett, das so interessant, so amüsant, so frisch oder so aufregend ist wie 'Les Noces'. Dieses Ballett ist eine Wiedergabe der bäuerlichen Seele in Ton und Bild, in ihrer Schwere, in ihrer bewussten und einfältigen Komplexität, die jeden intelligenten Mann in Erstaunen versetzen und erfreuen wird."
"Oder jede Frau, die es sich ansieht", ergänzt Wells in seinem offenen Brief noch. "Les Noces" scheint nicht gemacht für konservative Ohren. Aber das Pariser Publikum, das ist aufgeschlossen. Und reagiert begeistert. Und auch Strawinsky selbst liebt dieses Stück, das viele für sein radikalstes und originellstes halten. Seine Agentin Lilian Libman erinnert sich: "Während der Zeit, in der ich ihn kannte, brachte die Erwähnung von Les Noces immer dasselbe Lächeln hervor, mit dem er diejenigen begrüßte, für die er große Zuneigung empfand."
"Les Noces" begleitet Strawinsky lang. Seit 1913 schraubt er daran herum, ändert immer wieder Instrumente. Es entstehen verschiedene Versionen. Allen gemein ist der wilde Klang, zigfach nachgeahmt von Komponisten danach: zum Beispiel von Carl Orff, Béla Bartók, Olivier Messiaen. "Les Noces", sagt Libman, ist so was wie Strawinskys Lieblingskind. Und an diesem 13. Juni 1923 kommt es unsterblich zur Welt.
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Stravinsky - Les Noces
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Sendung: "Allegro" am 13. Juni 2023 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK