Menuhin und Britten sind auf Tournee. Seit Tagen schon fahren der berühmte Geiger und sein Freund, der englische Komponist, mit einem kleinen Auto über die zerstörten Straßen Norddeutschlands und Westfalens, durchqueren die ganze englische Besatzungszone, um in Lagern, Klöstern und Schulen Konzerte zu geben. Keine gewöhnlichen Konzerte.
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Was heute geschah zum Anhören
Yehudi Menuhin und Benjamin Britten spielen für "Displaced Persons" – Männer, Frauen und Kinder, die eine qualvolle Vergangenheit als Zwangsarbeiter, Häftlinge und Versuchspersonen hinter sich haben. Jetzt warten sie nur noch auf ihre Rückkehr in die Heimat. Krank, unterernährt, seelisch gebrochen sitzen sie in den Zuschauerreihen. Auch die 20-jährige Anita Lasker-Wallfisch ist unter ihnen. Sie hat das Grauen in Bergen-Belsen überlebt.
Anita Lasker-Wallfisch während einer Gedenkstunde des Bundestags | Bildquelle: dpa/picture-alliance/Wolfgang Kumm "Es war ein wunderbarer Abend. Dass Menuhin geigerisch vollendet gespielt hat, ist wohl überflüssig zu erwähnen. Was seinen Begleiter betrifft, kann ich nur sagen, dass ich mir etwas Wunderbareres kaum vorstellen kann. Man hat überhaupt nicht gemerkt, dass da begleitet wird, und trotzdem musste ich wie gebannt auf diesen Mann sehen, der auf seinem Stuhl saß, als ob er nicht bis drei zählen könnte, und so vollendet schön spielte."
Oft gibt das Duo mehrere Konzerte am Tag. Auch in Bergen-Belsen, wo die Lazarette überfüllt sind, spielt es am 27. Juli 1945 gleich zwei Mal hintereinander. Beethoven ist dabei, die Kreutzer-Sonate, Bach, Kreisler und Mendelssohn. Aber viele Menschen haben Probleme beim Zuhören. Anita Lasker-Wallfisch erinnert sich:
Es war unmöglich, vollständige Ruhe im Saale zu erzielen. Ich habe mich manchmal richtig für das Publikum geschämt.
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Benjamin Britten war zu dem Zeitpunkt des Konzerts noch kaum bekannt. Durch seine Freundschaft mit Yehudi Menuhin sollte sich das ändern. | Bildquelle: www.bbc.co.uk Dabei lässt sich die Unruhe nur zu gut verstehen, wenn man bedenkt, dass manch einer zuletzt bei Zwangsunterhaltungen für die SS oder Hinrichtungen mit Musik in Berührung gekommen ist. Einige können nur mit Mühe sitzen und lauschen, beschreibt auch Britten die Situation, der Albtraum ist noch zu gegenwärtig. Für die Musiker bleiben die Tage in Deutschland zeitlebens eingebrannt in ihrem Inneren.
Britten kann jahrelang nicht über das Erlebte sprechen. Er komponiert stattdessen nach seiner Rückkehr die "Holy Sonnets of John Donne" und bekennt erst kurz vor seinem Tod, dass eigentlich alles, was er nach der Tournee geschrieben habe, von dieser Zeit geprägt wurde.
Anita Lasker-Wallfisch hat über die Musik den Weg ins Leben zurückgefunden. Sie wurde Musikerin beim English Chamber Orchestra.
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Britten - The Holy Sonnets of John Donne - Pears / Britten 1947
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Sendung: "Allegro" am 27. Juli 2022 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK