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Pianistin Marie Jaëll Mit Liszt zum Erfolg

Steinseltz, 17. August 1846. Die Pianistin Marie Jaëll wird geboren. Als Franz Liszt ein Konzert gibt, sitzt im Publikum eine junge Frau. Marie Jaëll. Sie ist selbst eine großartige Pianistin. Und dieses Konzert sollte Jaëlls Leben grundlegend verändern.

Bildquelle: picture-alliance/dpa

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Als Franz Liszt zu spielen beginnt, wird sie eine andere. In ihrem Tagebuch notiert Marie Jaëll nach dieser Begegnung mit dem Pianisten:

"Als ich 1868 in Rom zum ersten Male Liszt hörte, schienen alle meine Sinne sich zu wandeln, in dem Moment, als er anhob zu spielen: Diese so unerwartete Veränderung beeindruckte mich sogar noch mehr als sein Spiel selbst." 

Auch Liszt selbst scheint einer Verwandlung zu unterliegen. Die Frage, was in diesem Moment vor sich gegangen ist, über welche Magie der große Virtuose verfügte, um eine so starke Reaktion bei ihr hervorzurufen, beschäftigt Marie von nun an bis zu ihrem Lebensende.

Als ich 1868 in Rom zum ersten Male Liszt hörte, schienen alle meine Sinne sich zu wandeln.
Marie Jaëll

Marie beginnt, wo andere enden

Sie selbst ist das, was so häufig als "Wunderkind" bezeichnet wird. Mit sechs Jahren erhält sie ihre ersten Klavierstunden, wird bald auch in Gesang- und Komposition unterrichtet und debütiert als Pianistin kaum drei Jahre später. Es folgt die Aufnahme am Konservatorium in Paris. Der Virtuose Henri Herz ist zu dieser Zeit bereits ihr Lehrer und schenkt Marie zu ihrem Abschluss einen Konzertflügel. Soweit ein Leben, wie es nicht viele Frauen im 19. Jahrhundert leben dürfen. Ein Leben voller Möglichkeiten und Träume und mit dem Freiraum, diese wahr werden zu lassen. Marie geht auf Europa-Tournee mit ihrem eigenen Flügel. Auch das eine Seltenheit.

Ein Konzert-Leben zu vier Händen

Und dann trifft sie Alfred Jaëll, auch er ein bekannter Pianist und 15 Jahre älter als Marie. Die beiden heiraten und treten künftig als Klavier-Duo auf. Denn Marie liebt Klaviermusik zu vier Händen. Für diesen Zweck transkribiert sie viele berühmte Werke. Überhaupt widmet sie sich zunehmend der Komposition und nimmt Unterricht bei Cesar Franck und Camille Saint-Saëns. Marie Jaëll arbeitet, entwickelt sich weiter, bildet sich und nach wie vor, trägt sie das Konzerterlebnis mit Liszt im Herzen, mit dem sie inzwischen eine Freundschaft verbindet. Bald ist sie die erkennbar bessere Künstlerin im Klavier-Duo Jaëll, was ihren Ehemann Alfred veranlasst, seine Pianisten-Karriere aufzugeben.

Ein Männername über Ihrer Musik – und sie wäre auf allen Klavieren

Als Alfred Jaëll stirbt, zieht Marie nach Weimar, um künftig für Franz Liszt zu arbeiten. Sie korrigiert seine Kompositionen und erledigt seine Korrespondenz, im Gegenzug unterstützt er sie in ihrem kompositorischen Ehrgeiz. Und Marie ist gut. Ihre Werke gelangen fast ausnahmslos in die Konzertsäle und werden mit Begeisterung aufgenommen. 1876 veröffentlicht Franz Liszt ihre Walzer zu vier Händen und spielt sie selbst in einem Konzert zusammen mit Camille Saint-Saëns. "Ein Männername über Ihrer Musik und sie wäre auf allen Klavieren", schreibt Liszt an Marie und bringt damit die Tragik ihres Lebens auf den Punkt.  Sie hat alles: Begabung, Ehrgeiz, Ausdauer, Fleiß, Kreativität, Können und Geschmack. Aber sie ist und bleibt eine Frau. Dennoch Marie erzwingt sich, was so vielen anderen Künstlerinnen versagt bleibt: die Anerkennung ihrer männlichen Kollegen. Franz Liszt sagt über sie:

Sie hat den Geist eines Philosophen und die Hände eines Künstlers.
Franz Liszt

"Sie hat den Geist eines Philosophen und die Hände eines Künstlers." Als Zeichen seiner tiefen Verbundenheit widmet er ihr seinen Dritten Mephisto-Walzer, Camille Saint-Saëns sein 1. Klavierkonzert. Und noch eine öffentliche Anerkennung erkämpft sich Marie Jaëll: Als erste Frau wird sie 1887 aufgenommen in die "Société Nationale des Compositeurs de Musique".

Aber es ist noch nicht genug, sie komponiert und komponiert und konzertiert und spielt 1891 und 1892 im Andenken an jenen Abend in Rom und – als Hommage an den inzwischen verstorbenen Freund – das gesamte Klavierwerk von Franz Liszt im Konzert.

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Marie Jaëll – Piano Concerto No.1, in D minor | Bildquelle: SP's score videos (via YouTube)

Marie Jaëll – Piano Concerto No.1, in D minor

Die Methode Liszt

Marie Jaëll ist fast 50 Jahre alt, als sie sich entschließt, dem Phänomen "Liszt" methodisch auf den Grund zu gehen. Sie entwickelt eine neue Technik um das Klavierspiel zu erlernen. "Bewusstsein" ist das Schlagwort. Ein Bewusstsein dafür entwickeln, was die Finger spüren, eine Sensibilität. Im Vergleich zu bisher gängigen Drill-Methoden, um mechanische Fertigkeiten bis zum Äußersten zu erzwingen, ist Maries Ansatz unglaublich modern. Ausgehend von ihren Beobachtungen der "lisztschen" Technik veröffentlicht sie 1895 ihr erstes Lehrbuch "Der Anschlag". Zehn weitere Unterrichtsbände werden folgen.

Im Jahr 1905, Marie Jaëll ist inzwischen Professorin am Konservatorium in Paris, beendet sie ihre aktive Pianisten-Karriere, 1917 ihre Arbeit als Komponistin. Als sie 1925 an den Folgen einer Grippe stirbt, hat sie mehr erreicht, als die meisten anderen Künstlerinnen ihrer Zeit. Sie hat sich die Liebe des Publikums verdient und die Achtung der Kritiker, den Respekt ihrer Berufskollegen und die Freundschaft großer Komponisten. Ihre Klavierschule ist zu einem wichtigen Baustein mentaler Arbeit am Instrument geworden. Und doch: Von den über 70 Werken, die Marie Jaëll hinterlässt, erscheint nur knapp die Hälfte im Druck, nur wenige haben die Zeit überdauert und es bis in gegenwärtige Konzertsäle geschafft. Vielleicht – oder bestimmt – wäre es anders gewesen, wenn über ihrer Musik ein Männername gestanden hätte.

Was heute geschah

Unsere Reihe "Was heute geschah" zu bemerkenswerten Ereignissen der Musikgeschichte können Sie auch um 7:40 Uhr, um 13:30 Uhr und um 16:40 Uhr auf BR-KLASSIK im Radio hören. Weitere Folgen zum Nachhören finden Sie hier.

Sendung: "Allegro" am 17. August 2023 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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