Dmitrij Schostakowitschs Siebte Symphonie ist eine Legende. Sie war es schon, bevor sie überhaupt zum ersten Mal erklang. Denn wann war die Entstehungsgeschichte eines großen symphonischen Werkes je so schicksalhaft in die tragischen Ereignisse der Weltgeschichte verflochten wie im Falle der "Leningrader"?
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Sommer 1941: Am 22. Juni greift die Wehrmacht die vollkommen unvorbereitete Sowjetunion an. Russland befindet sich im Krieg mit Nazi-Deutschland, mit dem es sich gerade noch trügerisch im Nicht-Angriffs-Pakt wähnte. Der führende Sowjetkomponist, Dmitrij Schostakowitsch, weilt in seiner Heimatstadt Leningrad, patriotisch gestimmt, und schreibt eine neue Symphonie. Mehrfach bemüht er sich, zur Roten Armee eingezogen zu werden, doch er wird abgelehnt - das Sowjetreich möchte seine Künstler nicht den Kanonen opfern. Immerhin darf Schostakowitsch als Mitglied der Brandwache einen Beitrag zur Verteidigung Leningrads leisten.
Dmitrij Schostakowitsch als Luftschutzwart auf dem Dach des Leningrader Konservatoriums (1941) | Bildquelle: Pressefoto
Stunden, oft ganze Nächte verbringt er im Feuerwehrschutzanzug auf dem Dach des Konservatoriums, dazwischen konzentriert er sich mit aller verbleibenden Kraft auf seine Symphonie. Selbst als im September die Wehrmacht beginnt, Leningrad systematisch von seinen Versorgungswegen abzuschneiden und auszuhungern, weigert sich Schostakowitsch, seine geschundene Stadt zu verlassen. Er will den Faden zu seinem Werk nicht verlieren, den leidenden Menschen mit seiner Symphonie einen moralischen Halt geben. Erst Anfang Oktober gibt er seinen Widerstand auf und lässt sich evakuieren. Die ersten drei Sätze der Symphonie immerhin sind geschafft. Den letzten schreibt er in Kuibyschew an der Wolga.
Dass die so entstandene Symphonie von vorneherein mystifiziert und ideologisch überhöht wurde, konnte nicht ausbleiben. Die Deutung des Werkes war sogleich eine abgemachte Sache: Die "Leningrader" galt als ein patriotisches Manifest, eine Beschwörung des Widerstandsgeistes, ein Fanal gegen den Faschismus. Und tatsächlich konnte jeder gleich im ersten Satz die deutschen Truppen einmarschieren hören: In der so genannten "Invasions-Episode" wird ein zunächst simpel und harmlos erscheinendes Thema (das auch noch das Lied "Da geh’ ich zu Maxim" aus Hitlers Lieblingsoperette "Die lustige Witwe" von Franz Lehár zitiert) über einem bedrohlichen Rhythmus der Kleinen Trommel nach und nach klanglich so massiert und ins Aggressive gesteigert, dass man sich am Ende in einem Inferno wähnt. Doch das waren nur etwas mehr als zehn Minuten eines 75-minütigen Riesenwerkes. Was war denn sonst zu vernehmen?
Würde man die "Leningrader Symphonie" ohne jede Kenntnis ihrer Entstehungsumstände und politischen Vereinnahmung hören, nähme man vielleicht vor allem wahr, dass in diesem Werk sehr viel sehr grelle Musik neben sehr viel sehr leiser und extrem nach innen gekehrter Musik steht. Neben all dem brutalen Lärmen und Militärgerassel, auch in den anderen Sätzen, gibt es immer wieder Stellen von berührender kammermusikalischer Intimität, traumverlorene Soli, die lange versonnene Gedankenfäden spinnen und ganz mit sich beschäftigt sind: Man kann sie kaum anders hören als die Stimmen von Individuen - zart, aber fragil und ständig gefährdet durch die Einbrüche von Gewalt und Rohheit.
Dmitrij Schostakowitsch | Bildquelle: Archiv des Bayerischen Rundfunks
Doch das Individuum war dem Sowjetstaat suspekt, und tatsächlich sollte Schostakowitsch später, als der Krieg längst vorbei war und sich der Rummel um das patriotische Meisterwerk gelegt hatte, dafür gerügt werden, eine "Welt subjektiver Reflexionen" zum Klingen gebracht zu haben. Man lobte zwar den ersten Satz mit seiner eindrücklichen Karikatur des Feindes, vermisste aber ansonsten die Verherrlichung der "Macht und Kraft der Roten Armee" und den Entwurf eines optimistischen Bildes der Sowjet-Gesellschaft. Aber das war natürlich niemals Schostakowitschs Absicht gewesen. Überhaupt war das Werk keine reine Kundgebung gegen Hitler, Krieg und Faschismus. Schon während der Zeit der Entstehung wussten viele Menschen aus dem persönlichen Umfeld des Komponisten, dass Schostakowitsch seine Symphonie so nicht gedacht hatte.
Wovon die Musik spricht, ist allgemeiner musikalischer Ausdruck von Gewalt und Bedrohung, eine überzeitliche symphonische Anklage gegen Unrecht, Schreckensherrschaft und die rücksichtslose Negierung des Individuums. All das hatten Schostakowitsch und unzählige Bürger der Sowjetunion lange vor Kriegsbeginn qualvoll am eigenen Leibe erfahren durch den Stalin’schen Terror der 1930er Jahre.
"Ich empfinde unstillbaren Schmerz um alle, die Hitler umgebracht hat. Aber nicht weniger Schmerz bereitet mir der Gedanke an die auf Stalins Befehl Ermordeten. Ich trauere um alle Gequälten, Gepeinigten, Erschossenen, Verhungerten. Es gab sie in unserem Lande schon zu Millionen, ehe der Krieg gegen Hitler begonnen hatte […] Ich habe nichts dagegen einzuwenden, dass man die Siebte die 'Leningrader' Symphonie nennt. Aber in ihr geht es nicht um die Blockade. Es geht um Leningrad, das Stalin zugrunde gerichtet hat. Hitler setzte nur den Schlusspunkt."
Die Erfahrung von Diktatur, Unfreiheit, Angst und Trauer ist als Grundklang aus Schostakowitschs Schaffen nicht wegzudenken. Dennoch war er der tiefen Überzeugung, dass "höchste Humanität und Liebe zu den Menschen […] die einzig würdige Schaffensbasis für alle Zweige der Kunst" sei. "Das wichtigste Objekt der Kunst aber bleibt […] der Mensch, seine Geisteswelt, seine Ideen, Träume, Wünsche", resümierte Schostakowitsch 1975, in seinem letzten Lebensjahr. Beides, der Grundklang von Gewalt und die tiefe Sehnsucht nach Humanität, haben in die Siebte Symphonie gleichermaßen Eingang gefunden.
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Lena Muchina, Tagebuchaufzeichnung vom 2. September 1941
"Der Feind steht vor den Toren Leningrads! In der unmittelbaren Umgebung von Leningrad kämpfen die tapferen Soldaten der Roten Armee…!" Das sagte die Rundfunksprecherin. Ich habe geschlafen, aber man erzählt, dass man in dieser Nacht deutlicher als früher den Kanonendonner hörte. Seit heute wurden die Lebensmittelkarten zustehenden Rationen verringert. Wir bekommen jetzt nur noch ein Kilogramm Brot am Tag. Bin gerade draußen herumgelaufen. Habe die Lebensmittelläden abgeklappert. Wie trist und leer es doch überall ist!“ | Bildquelle: imago/ITAR-TASS
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Tatjana Polotowskaja, 11 Jahre, Zeitzeugin
"Mein Vater musste die Lebensmittelkarten von seiner Arbeitsstelle abholen und meine Mutter schickte mich mit. Es war ein weiter Weg. Wir gingen am Hospital vorbei, in dessen Park die gestapelten Leichen der Verhungerten und Erfrorenen lagen, in Decken eingenäht. Die Leichen wurden dort gesammelt, um sie später zum Piskarjowka-Friedhof zu transportieren. Wir haben die Lebensmittelkarten bekommen und Mutter konnte Brot kaufen. An den Rückweg erinnere ich mich kaum. Vater war danach so erschöpft, dass er wenige Tage später starb." | Bildquelle: imago/ITAR-TASS
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A.D. Skiljagin, Major der Miliz
"Es war bezeichnend, dass viele dieser Verbrechen (Raubmorde, Anm. d. Red.) nicht von alten kriminellen und nicht von asozialen Elementen begangen wurden, sondern von Personen, die durch den Hunger, die Bombardierungen und Beschießungen zur Verzweiflung getrieben worden waren, Personen, die durch die Last dessen, was sie erlebten, psychisch gebrochen waren." | Bildquelle: imago/Itar-TASS
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J. Babuschkin über das Radiosymphonieorchester, Jan. 1942
"Die erste Violine liegt im Sterben, der Pauker starb auf dem Weg zur Arbeit, das Waldhorn ist todkrank." | Bildquelle: imago/ITAR TASS
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Lena Muchina, Tagebuchaufzeichnung vom 20. Januar 1942
"Es ist kalt, stets fühle ich den ungestillten Hunger. (…) Schrecklich, sich vorzustellen, welche furchtbaren Grausamkeiten die Faschisten begehen. Sie verwandeln die verlassenen Gebiete in eine entvölkerte Einöde, und das geschieht planvoll, aufgrund von Sonderbefehlen. Trümmer, Aschehaufen und Leichenberge - das finden unsere Soldaten in den zurückeroberten Gebieten vor. Das Blut gefriert einem in den Adern bei dem Gedanken, dass das alles kein Traum ist." | Bildquelle: imago /ITAR-TASS
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Schriftstellerin Lena Gorelik im Interview mit der SZ, 2014
"Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind einige Denkmäler abgerissen worden. Doch in Sankt Petersburg steht, soweit ich weiß, noch alles. Dort lebt der Mythos. Wenn man in die Stadt hineinfährt wird man begrüßt von der "Heldenstadt Leningrad". Die Belagerung gehört zu Sankt Petersburgs Identität. Noch lebende Kriegsveteranen und Menschen, die damals in der Stadt ausharrten, werden verehrt." | Bildquelle: imago/ITAR-TASS
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Die Zitate der Zeitzeugen stammen aus folgenden Quellen:
Ursula Reuter, Thomas Roth: "Lebenswege und Jahrhundertgeschichten - Erinnerungen jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion in Nordrhein-Westfalen" Emons Verlag 2013 +++ Harrison E. Salisbury: "900 Tage - Die Belagerung von Leningrad" S. Fischer Verlag 1970 +++ Süddeutsche Zeitung, Interview mit Lena Gorelik vom 24. Januar 2014 +++ Lena Muchina: Lenas Tagebuch. Leningrad 1941-1942, Ullstein 2013 | Bildquelle: imago/ITAR-TASS