"Chaos statt Musik" – 1936 erschien ein Hetzartikel dieses Namens in der "Prawda". Ein Komponist wurde geschmäht: Dimitrij Schostakowitsch war ins Blickfeld von Stalin geraten. Ein Berufsverbot für den Musiker drohte. Von nun an beherrschte Angst sein Leben. Ein lebenslanger Seiltanz zwischen Angst und Anpassung begann. Der Komponist lernte, seine Gedanken ohne Worte in Tönen auszudrücken. So auch in seinem Violinkonzert Nr. 1, das jahrelang, bis nach dem Tod des Diktators, auf seine Uraufführung warten musste.
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"Es gibt kaum ein Stück, das so eine Power mit sich bringt oder in so einem Maße solch eine Konzentration von dem Solisten verlangt. 40 Minuten dauert das Stück. Du spielst als Solist ununterbrochen. Es gibt kaum einen Moment, wo Du nicht spielst." Eine Kraftprobe? Daniel Hope spricht über ein Violinkonzert. Eine Symphonie mit obligater Geige. Eine erzählende Musik. Düstere Trauerklage. Sarkastisches Gespött. Übertriebenes Gelächter. "Das wurde für den großen David Oistrach geschrieben", führt Hope fort. "Damals und auch heute noch eine Legende. Am Anfang des vierten Satzes sollte es nach dieser unglaublichen Kadenz ursprünglich gleich weiter gehen mit der Solostimme. Und Oistrach, der ein kräftiger Mann war, sagte zu Schostakowitsch: Dimitrij Dimitrijewitsch, bitte, ich brauche mindestens ein paar Sekunden Pause. Kannst Du nicht irgendwie dieses Tutti ohne mich machen? Schostakowitsch hat es dann umgeschrieben für ihn, damit er Zeit hatte, einmal Luft zu holen, und selbst das auch nur für ein paar Sekunden. Wenn sogar Oistrach, der wirklich alles konnte, nach einer Pause verlangte, dann zeigt es, was dieses Stück einem abverlangt."
Die Rede ist von Dmitrij Schostakowitschs Violinkonzert Nr. 1 in a-Moll. Der Komponist schrieb es im Jahr 1948 – für die Schublade. Da war Stalin noch an der Macht. Der Diktator entdeckte nach dem Krieg die Musik als Gegenstand der Politik wieder und als Mittel der Propaganda zur "vaterländischen Erbauung" der "proletarischen Klasse". Symphonien und Konzerte galten von nun an als dekadent. "Oistrach hat auch gesagt, dass die Rolle der Geige in diesem Stück wie die eines Schauspielers ist", erklärt Daniel Hope zum Solopart des Konzerts. "Du musst diese Rolle tragen und sprechen. Und das ist wahr. Von Anfang an, mit den Celli und Bässen. Diese dunkle und düstere Welt. Sofort horcht man auf. Was ist da? Und die Geige fängt an mit dieser Melodie. Das ist eine Erzählung. Für mich hört sich das an wie ein älterer Mann, der über sein Leben erzählt."
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David Oistrach, der Widmungsträger von Schostakowitschs Violinkonzert Nr. 1 | Bildquelle: Pictorial Press Ltd Wie blenden uns zurück nach Leningrad ins Jahr 1955. David Oistrach – der berühmte Geiger – steht vor dem Orchester im berühmten Saal des Maarinski-Theaters. Jewgeni Mrawinski dirigiert. Und die Geige erzählt. Es erklingt jenes Werk, das für sieben Jahre in der Schublade verschwunden war. Ein Zufall? Schostakowitsch hat dies ausgerechnet der Beharrlichkeit eines amerikanischen Konzertagenten zu verdanken. Der hatte von der Existenz des Stückes schon früher erfahren und bestand nun darauf, dass Oistrach es bei seiner ersten Konzertreise in den USA spielen müsse. Unerwartet wurde nun die Uraufführung in Leningrad möglich. Um den Anschein zu erwecken, es handele sich um ein neues Werk, war dem Konzert kurzerhand die Opus-Nummer 99 verpasst worden. Doch handelte es sich tatsächlich um jenes noch unveröffentlichte Werk aus der Schublade mit der ursprünglichen Opus-Bezeichnung 77. Das Publikum zeigte sich kaum berührt. Auch von den Untertönen des sarkastisch spottenden Scherzos nicht.
"Das fängt an, als würde ein Hund bellen, mit diesen sehr aggressiven Akkorden", erklärt Daniel Hope dieses Scherzo. "Dieses Konzert wurde deswegen erst nach Stalins Tod veröffentlicht, weil Schostakowitsch Angst hatte, man würde erkennen, dass in der Musik die Stalin-Zeit abgebildet ist. Man hat gemutmaßt, dass im zweite Satz angeblich, durch diesen sehr merkwürdigen Rhythmus, die spezielle Sprechart des Kulturfunktionärs Schdanow nachgeahmt würde. Dieser Schdanow benutzte seine Macht, um das Leben Schostakowitschs und aller möglicher anderer Komponisten zur Hölle zu machen. Und er hatte eine ganz besondere Art und Weise zu sprechen: Er hat gestottert."
Im Jahr 1948 war Dimitrij Schostakowitsch zum zweiten Mal in seinem Leben in den Mittelpunkt einer Hetz-Kampagne geraten. Andrej Schdanow – ein Funktionär, im Politbüro mit der Durchsetzung der neuen musikpolitischen Leitlinien beauftragt – machte ihm das Leben schwer. Im Frühjahr 1948 zitierte Stalins Handlanger 70 Komponisten nach Moskau und geißelte die Musik des schon einmal geschmähten Schostakowitsch sowie mehrerer seiner Kollegen. "Auch wenn es mir schwer fällt, die Verurteilung meiner Musik, vor allem die Kritik des ZK anzuhören, so weiß ich, dass die Partei recht hat", verlas der Komponist eine Erklärung, die ihm ein Freund auf einem Zettel geschrieben hatte: "Dass es die Partei gut mit mir meint und dass es meine Aufgabe ist, Wege zu suchen und zu finden, die mich zum sozialistischen, realistischen und volksnahen Schaffen führen."
Eine unglaubliche Melodie: Traurigkeit, mit Stärke kombiniert.
Schostakowitsch gelobte Besserung und komponierte nun auch einige Werke, die der herrschenden Klasse gefielen. "Das Lied von den Wäldern" zum Beispiel, eine Propaganda-Kantate, oder die Musik zum Film "Der Fall von Berlin". Der Komponist, der seine Lehrstühle verlor, war gezwungen, wieder als Pianist aufzutreten. Er zog sich zurück. Für sich allein komponierte Schostakowitsch eine satirische Kantate, in der er Stalin und seine Schergen karikierte: "Rajok" – "Kleines Paradies".
Der Komponist beschäftigte sich außerdem mit jüdischer Volkspoesie, auch in seinem Violinkonzert: "Da gibt es diese wahnsinnige Melodie im zweiten Satz", äußert sich Daniel Hope dazu. "Immer wieder kommt dieses jüdische Element in Schostakowitschs Musik vor. Er selbst war zwar kein Jude, aber er fühlte mit ihnen. Dann die Passacaglia im dritten Satz vom Violinkonzert. Eine unglaubliche Melodie: Traurigkeit, mit Stärke kombiniert. Und schließlich diese Kadenz. Eine Riesenkadenz. Sie dauert ganze sechs bis sieben Minuten!"
Daniel Hope | Bildquelle: Harald Hoffmann "Man kann sich eine eigene Welt schaffen", sagt Daniel Hope. "Gerade am Anfang der Kadenz – wenn man sich die Zeit nimmt. Die Musik wird reduziert auf die einfachste Form, die einfachste Melodie: nur eine Linie, nur ein Ton. Es wird wiederholt. Es wächst und wächst, wird schneller und lauter und schwieriger und brillanter. Bis eine enorme Explosion kommt. Und diese Explosion mündet direkt in den letzten Satz. Dieser Satz ist wieder ein grotesker Tanz."
"Das ist Musik des Grauens", beschreibt Daniel Hope das Finale von Schostakowitschs Erstem Violinkonzert. "Aber auf eine so schöne und spannende Art und Weise, mit diesem Rhythmus, der nie aufhört. Das hat eine enorme Power. Ich habe dieses Stück einmal in Moskau gespielt, im großen Saal des dortigen Konservatoriums, mit einem russischen Orchester. Es war für mich ein unglaubliches Erlebnis und auch eine Ehre, diese Musik dort vor einem Publikum zu spielen, das diese Musik nicht nur liebt, sondern auch damit groß geworden ist."
Dmitri Schostakowitsch:
Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 a-Moll, op. 77
Daniel Hope (Violine)
BBC Symphony Orchestra, London
Leitung: Maxim Schostakowitsch
Label: Warner Classics
Sendung: "Das starke Stück" am 28. Februar 2023 um 19.05 Uhr auf BR-KLASSIK