Im Jahr 1877 entstand Tschaikowskys Vierte Symphonie. Es war für den Komponisten das Jahr der schwersten inneren Krise. Im Frühjahr hatte er einen Brief erhalten, von einer Antonina Miljukowa, die ihn am Konservatorium gesehen und sich sofort in ihn verliebt hatte. Es kam zu einem Treffen und schließlich sogar zu einer Ehe, die glückloser kaum hätte sein können: In einem späteren Brief schrieb Tschaikowsky, der Tod schiene ihm der einzige Ausweg zu sein. All dieses Leid ist der Vierten Symphonie ganz und gar eingeprägt. BR-KLASSIK hat darüber mit Mariss Jansons gesprochen.
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Schicksalsklänge einer empfindsamen Seele. Klang gewordener Schmerz eines Menschen, der sein Leben lang mit Depressionen zu kämpfen hatte, mit der Gesellschaft haderte und mit dem eigenen Unglück: Peter Iljitsch Tschaikowsky. Im Mai 1877 begann er die Arbeit an seiner Vierten Symphonie. Der Dirigent Mariss Jansons sagt zu diesem Werk: "Das ist ein menschliches Drama, ein Drama der Seele. Wir wissen, dass Tschaikowsky sehr schwere Zeiten hatte; er war homosexuell, und das kam in der damaligen Gesellschaft überhaupt nicht in Frage. Er hatte furchtbare Angst, und das alles hat ihn fast in eine Situation gebracht, in der er sterben wollte."
Diese Traurigkeit und Einsamkeit ist vielleicht das, was mich am meisten berührt.
Peter Tschaikowsky mit seiner Frau Antonina, Foto 1877 | Bildquelle: picture-alliance / akg-images Kurz vor der Entstehung der Vierten Symphonie hatte Tschaikowsky geheiratet, um nach außen den Anschein eines normalen Lebens zu geben. Doch diese Selbstverleugnung führte ihn in eine tiefe Krise, bis hin zum Selbstmordversuch. Die Vierte Symphonie als Reflex seiner düsteren Innenwelt zu deuten, ist kein beliebiger, musikwissenschaftlicher Deutungsversuch. Tschaikowsky selbst hatte auf Wunsch seiner Mäzenin und Vertrauten Nadeschda von Meck zu jedem der vier Sätze eine unmissverständliche Erklärung abgegeben. Für den zweiten Satz etwa: "Der zweite Satz drückt das schwermütige Gefühl aus, das mich am Abend überkommt, wenn ich müde von der Arbeit alleine da sitze ... vielerlei jagt durch den Sinn glückliche Augenblicke, aber auch solche der Niedergeschlagenheit. Es ist traurig und auch wieder süß, sich in der Vergangenheit zu verlieren!" Mariss Jansons schwärmt von dieser Musik: "Die Interpretation des zweiten Satzes ist etwas für mich ganz Besonderes. Diese Traurigkeit und Einsamkeit das ist vielleicht das, was mich am meisten berührt."
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Süße Klänge und ausschweifende Melodien als Seelendrama? Da ist bei Dirigent und Interpreten, aber auch bei den Zuhörern Vorsicht geboten. Mariss Jansons warnt: "Tschaikowsky darf nicht sentimental klingen, nicht melancholisch, zu süß, man darf die schönen Melodien nicht zuviel genießen; wenn man das übertreibt, verliert die Musik das echte Gefühl. Dieses seelische, dramatische Leidmoment; das ist, glaube ich, ein wichtiger Schlüssel für die Interpretation von Tschaikowskys Musik."
Das Wissen um die Hintergründe der Symphonie verändert das Hören, und es gebiert allen Vorurteilen gegenüber Tschaikowskys scheinbarer Sentimentalität Einhalt. Seine melodische Erfindungskraft, seine Kunst farbenreicher Instrumentierung und sein Sinn für musikalische Leichtigkeit stehen immer im Dienst des Ausdrucks. Auch im beschwingt anmutenden dritten Scherzo-Satz, der von den Streichern fast vollständig im Pizzicato gespielt wird.
Es ist keine lustige Musik, auch wenn es sich an der Oberfläche so anhört.
"Er versucht hier die russische Balalaika zu kopieren", erklärt Mariss Jansons diesen Satz. "Aber da sind sehr merkwürdige Gedanken in seiner Vision; er sieht ein paar Bauern, die vielleicht ein bisschen betrunken sind, und dann sieht er ein Militäraufzug. Das sind lediglich Visionen, alles hat mit seiner innerer Welt und vielleicht auch seinen Träumen zu tun. Es ist keine lustige Musik, auch wenn es sich an der Oberfläche so anhört. Ich glaube, man muss sehr tief in seine Musik hineingehen."
Mariss Jansons | Bildquelle: BR/Astrid Ackermann Dann zeigt sich auch der vierte Satz mit seinem furios anmutenden Ende in neuem Licht. Es ist ein Satz, in dem der Komponist die Freude anderer Menschen schildert und seinen Versuch, an ihrer Freude teil zu haben. "Das Resultat von dem ist jedoch nicht, dass ihm das gelungen ist", erklärt Maestro Jansons. "Das Schicksalsthema, das wir zu Beginn der Symphonie hörten, ist zurückgekommen, und die Freude der Anderen hat Tschaikowskys innere Welt nicht geändert. Von außen betrachtet, endet die Symphonie mit großer Fröhlichkeit und der Schluss ist fantastisch. Wenn man das jedoch analysiert, ist es eine Tragödie: Er muss seinen eigenen Weg gehen – auf der einen Seite steht er, und auf der anderen Seite die Anderen."
Peter Tschaikowsky:
Symphonie Nr. 4 f-Moll op. 36
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Leitung: Mariss Jansons
Label: Sony Classical
Sendung: "Das starke Stück" am 28. November 2023, 19.05 Uhr auf BR-KLASSIK