Oft ähnelt in Antonio Vivaldis "Stabat Mater" die Gesangsstimme eher einer Opernarie als einer geistlichen Komposition – und verglichen mit Gesangspartien in den Opern Vivaldis bezeichnen Sänger das "Stabat Mater" oft als besonders gelungen. Es gehört zu den am meisten aufgeführten geistlichen Vokalwerken Vivaldis. Aurelia Weiser hat mit der Barockgeigerin und Dirigentin Chiara Banchini über dieses Starke Stück gesprochen.
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Die Sendung zum Anhören
Vivaldis "Stabat Mater" reiht sich ein in die lange Tradition von Vertonungen dieser Verse. In lateinischer Sprache tauchen sie im 14. Jahrhundert erstmals in Gebets- und Andachtsbüchern auf. In ihnen geht es um die Situation und Gefühle Marias, die ihrem Sohn in seinem Tod am Kreuz beisteht. Sie enden mit der Bitte um den rechten Glauben an Jesus Christus und an Gott. Seit der Renaissance-Zeit entstanden eine unüberschaubare Anzahl an Vertonungen, die eine Marienfrömmigkeit und die intensive Hinwendung zum Leiden Christi vor allem in Italien und Süddeutschland ausdrücken. Mehrstimmige Vertonungen vor Vivaldi gibt es zum Beispiel von Monteverdi, Palestrina und Charpentier.
Vivaldi verfährt ungewöhnlich mit dem Text: Er kürzt die ursprünglich zwanzig Strophen auf zehn, wiederholt die Musik der ersten drei, und wechselt in seinen Klängen zwischen der Erzählperspektive und dem direkten Erleben Marias. Als Zuhörer fühlt man sich abwechselnd als Betrachter oder unmittelbar beteiligt am Geschehen. Klangmalerisch deutet Vivaldi Textstellen aus wie in der Strophe "Eja Mater". Hier erscheint die Liebe zur Mutter Gottes verklärt im Melisma "fons amoris", besondere Dramatik entsteht durch den intensiven Herzpuls der Streicher.
Das 'Eja Mater' – das sind drei Minuten Maximum.
Chiara Banchini hat das Werk zusammen mit dem Countertenor Andreas Scholl aufgenommen. Über das "Eja mater" sagt sie: "Dieser Puls, das ist ein Herz, das stoppt oder stoppen wird. Oder aber – und das ist eher meine Meinung – es könnte auch sein, dass in diesem Moment, in dem Christus stirbt, alles kaputtgegangen ist: Das Herz dieser Mutter, die so stark ist, und das Herz ihres Sohnes, der stirbt – das sind drei Minuten Maximum!"
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Der Countertenor Andreas Scholl. Mit ihm hat Chiara Banchini Vivaldis "Stabat Mater" aufgenommen. | Bildquelle: Decca Ob Vivaldis Werk von einem Mann oder einer Frau erstmals gesungen wurde, ist unbekannt, ebenso das Entstehungsjahr. Zwar sah man es zu Vivaldis Zeit ungern, wenn Frauen in Kirchen religiöse Musik sangen, doch standen Countertenöre als Solisten nicht immer zur Verfügung. Zudem weiß man, dass die Mädchen im "Ospedale de Pietà" in Venedig, wo Vivaldi unterrichtete, seine Werke auch in Gottesdiensten aufführten. Auch bleibt offen, für wie viele Streicher das Werk gemeint war. "Wir haben das mit einem kleinen Orchester aufgenommen", sagt Chiara Banchini. "Ich glaube, das könnte man auch solistisch mit einem Quartett aufführen. Vielleicht war es auch so gedacht, aber mit Orchester es ist auch gut. Das Gleichgewicht zwischen Streicher und Gesang funktioniert vielleicht sogar besser. Wenn ich die Vokalpartie höre, kann ich nur sagen, es ist unglaublich gut für Stimme geschrieben."
Als rein liturgisches Werk für das Fest Mariä Sieben Schmerzen, oder für den Freitag nach der Karwoche hat Vivaldi sein Stück nicht konzipiert, ebenso wenig wie die meisten der "Stabat Mater"-Vertonungen seit dem 18. Jahrhundert. "Wenn man das Ende des 'Stabat Mater' hört, glaubt man, es handle sich um eine Opernarie, so ähnlich wie das 'Stabat Mater' von Boccherini", äußert sich Chiara Banchini über Vivaldis Komposition. "Ich glaube, es war einfach so: Die wollten singen. Singen ist das beste auf der Welt, und auch über den toten Christus kann man singen! Ich liebe dieses Stück wirklich. Vivaldi hat da ein Meisterwerk komponiert; es ist viel besser als etliche seiner Concerti. Die sind zwar auch ganz schön, aber im 'Stabat Mater' gibt es wirklich eine ganz spezielle Tiefe!"
Antonio Vivaldi:
"Stabat Mater", RV 621
Andreas Scholl (Countertenor)
Ensemble 415
Leitung: Chiara Banchini
Label: harmonia mundi
Sendung: "Das starke Stück" am 30. März 2021, 19.05 Uhr auf BR-KLASSIK