Er ist der vermutlich berühmteste Komponist der Renaissance, gilt als Ikone des Kontrapunkts und wird als "Retter der Kirchenmusik" verehrt: Giovanni Pierluigi, der sich nach seinem Geburtsort Palestrina nannte. 2025 feiert die Musikwelt seinen 500. Geburtstag. Sogar zum Titelhelden einer Oper hat er es zwischenzeitlich gebracht. Dabei war Palestrina alles andere als der weltenthobene Säulenheilige der Vokalpolyphonie, zu dem ihn Mythen und Legenden stilisiert haben.
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Auf seinem berühmtesten Porträt schaut er so aus, wie man sich einen Schutzpatron der Kirchenmusik vorstellt: Hohe Stirn, perfekt gestutzter Bart, strenger, ernster, würdiger Blick. In der Hand die Feder, die ätherische Klänge aufs Notenpapier bannt – himmlische Musik, die auf uns hinunter zu schweben scheint aus einer anderen Welt.
Schon die Romantiker haben Giovanni Pierluigi da Palestrina ins Überirdische verklärt. ETA Hoffmann schwärmte von seinen Akkorden, die "wie blendende Strahlen" hereinbrächen. Für Richard Wagner waren die Motetten eine "geistige Offenbarung". Und Friedrich Nietzsche fand Palestrinas Musik "unaussprechlich erhaben und heilig". Mit der historischen Wahrheit nahm man es damals freilich nicht so genau; schon Johann Joseph Fux hatte 1725 in seinem "Gradus ad Parnassum" den Palestrina-Stil gelehrt, ohne auch nur ein einziges authentisches Palestrina-Beispiel zu zitieren. Und Franz Liszt komponierte in den 1840er Jahren ein "Miserere nach Palestrina", dessen Melodie zwar gar nicht von Palestrina stammt, dafür aber schön mystisch und feierlich klingt.
Dabei war der reale Giovanni Pierluigi wahrscheinlich gar nicht so mystisch und weltabgewandt, sondern recht lebenspraktisch und bodenständig. Er besaß in seinem Heimatstädtchen Palestrina Ländereien, versorgte in Rom die Lateranbasilika, an der er zeitweilig wirkte, auch mal mit Wein aus eigenem Anbau und scheint durchaus Gefallen an der Landwirtschaft gehabt zu haben. Auch seines eigenen Marktwertes war sich Palestrina sehr wohl bewusst. Er hätte Kapellmeister am Wiener Kaiserhof werden können, wenn seine finanziellen Forderungen nicht so hoch gewesen wären. Auch der Papst, der ihn 1571 zum Kapellmeister am Petersdom und zum Komponisten des Vatikans berief, musste sich das einiges kosten lassen. Immer wieder hat Palestrina in den Folgejahren sein Gehalt nachverhandelt.
Dafür bekam der Papst aber auch einen der gefragtesten Musiker Europas – und überirdisch schöne Musik. Palestrina war der Meister der unendlichen Melodie, Jahrhunderte bevor sich Richard Wagner großspurig zu ihrem Erfinder deklarierte. Seine Messen, Litaneien, Motetten: ein meditatives Dahinströmen, ein friedvolles Meer aus sanften Klangwellen. Da möchte man einfach die Augen schließen und sich treiben lassen.
Eine dieser Messen ist regelrecht zum Mythos stilisiert geworden. Denn es wird erzählt, Papst Marcellus, hocherzürnt über den Missbrauch der Musik in der Liturgie, über die Unverständlichkeit der Texte, habe eines Tages beschlossen, allen Gesang aus der Kirche zu verbannen. Palestrina aber habe eilends eine Messe komponiert, um den Papst vom Gegenteil zu überzeugen. Und als der Papst die Messe hörte, sei er völlig anderen Sinnes geworden, weshalb die Messe "Missa Papae Marcelli" genannt werde bis auf den heutigen Tag. Ein musikalisches Märchen, aus dem der Komponist Hans Pfitzner 1915 auch noch eine Oper gemacht hat. Pfitzner lässt darin sogar Engel auftreten, die Palestrina Musik von überirdischer Schönheit diktieren.
Immerhin hat diese Legende um Palestrina als "Retter der Kirchenmusik"einen wahren Kern: Denn Palestrinas Missa Papae Marcelli dürfte, neben den Werken anderer Komponisten, womöglich tatsächlich eine Rolle gespielt haben bei den Beratungen des Konzils von Trient. Und Palestrina musste sich sicher nicht verbiegen, um den Wünschen der Gegenreformation entgegenzukommen: Textverständlichkeit, Klarheit und Sanglichkeit lagen ihm sowieso am Herzen. Weswegen seine Musik bei aller Kunstfertigkeit bisweilen auch so glatt wirkt wie der weiße Marmor im Petersdom.
Ganz und gar nicht gilt das allerdings für seine weltlichen Madrigale, von denen sich Palestrina 1584 vor dem Papst sogar distanzierte:
Ich erröte und bereue, kann aber das Vergangene nicht ungeschehen machen: Einst vertonte auch ich dem christlichen Glauben unwürdige Liebesgedichte, heute schäme ich mich dafür.
Berühmt ist dieses Sündenbekenntnis geworden, passt es doch gut ins Bild des ganz dem Geistlichen zugewandten Kirchenkomponisten. Weniger gut ins Bild passt allerdings, dass Palestrina nur zwei Jahre später erneut ein Madrigalbuch herausbrachte. Insgesamt rund 150 Madrigale hat er bis kurz vor seinem Tod veröffentlicht, teils unter seinem Spitznamen "Giannetto". Zum Glück! Denn diese Musik, von den Zeitgenossen vielfach arrangiert, wird wohl auch in 500 Jahren noch immer frisch und lebendig wirken.
Gewiss, es gab auch Rückschläge in Palestrinas Biographie. Zwar wurde er schon mit 30 zum Kantor der Sixtinischen Kapelle berufen, nach wenigen Monaten aber schon wieder entlassen, weil er verheiratet war und ein neuer Papst strengere Maßstäbe an seine Sänger anlegte. Eine Kränkung, die er auch später, als Petersdomkapellmeister, nie richtig überwinden konnte. Trotzdem: die Zeitgenossen waren sich seines Ranges sehr wohl bewusst. Als er 1594 starb, wurde er unter großem Pomp und unter der Anteilnahme von mehreren hundert Musikern beigesetzt. "Musicae princeps", "Fürst der Musik", stand auf seinem Grab in der Peterskirche. Im Jahr vor seinem Tod hatte Giovanni Pierluigi noch mit dem Gedanken gespielt, den Posten am Petersdom an den Nagel zu hängen und zurückzukehren in das kleine Landstädtchen, aus dem er stammte und dessen Name durch ihn weltberühmt geworden ist: nach Palestrina.
Sendungsthema aus "Tafel-Confect" vom 12. Januar 2025, 12.05 Uhr auf BR-KLASSIK