23. März 1955. Das Hörspiel „Die Zikaden“ von Ingeborg Bachmann und Hans Werner Henze wird im Nordwestdeutschen Rundfunk uraufgeführt. Eine Insel als Zuflucht, der Gesang der Zikaden als unheilvolles Echo. Ingeborg Bachmann und Hans Werner Henze erzählen in „Die Zikaden“ von Menschen, die der Vergangenheit entkommen wollen – und dabei sich selbst verlieren.
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Eine Insel mitten im Meer, weit weg von allem. Es riecht nach Seeluft und Rosmarin. (Pinien ragen in einen wolkenlos blauen Himmel.) Die Sonne tut ihr Übriges. Hier kommt die Seele zur Ruhe. Das jedenfalls erwarten die Menschen, die hier Zuflucht suchen. Weit weg von Schutt und Scherben ihrer gescheiterten Vergangenheiten.
Sie sehen zurück auf den Kontinent, diesen grauen Klebstreifen am Horizont, dem sie entronnen sind. Und sie danken Gott dafür, dass er das Meer zwischen sie und das Land gelegt hat.
Überraschung: Es wird nicht alles besser. Aber zumindest können sich die Menschen hier, in Ingeborg Bachmanns Hörspiel, in neue Lebenslügen stürzen. Der sonnengebräunte Inselbewohner Antonio und ein Erzähler stellen uns nach und nach die Gestrandeten vor. Auftritt Helen Brown. Fünfmal geschieden, hat eine Abtreibung hinter sich und sehnt sich nach einem Kind. Dann sind da noch die Kosmetikerin Jeanette, die gegen ihr Altern ancremt. Oder der mittelmäßige Maler Salvatore. Alle auf einem Trip der Selbsttäuschung. Untermalt vom Gesang der Zikaden.
Gemischter Chor und großes Orchester. Kein Text. Das ist Hans Werner Henzes Zikadenmusik, die sich zwischen die Dialoge schiebt. Monoton und sirenenhaft. Am Ende des Hörspiels erfährt man, dass die Zikaden mal Menschen waren: „Sie hörten auf zu essen und zu trinken und zu lieben, um immerfort singen zu können. Und nun singen sie, verzaubert, aber auch verdammt. Weil ihre Stimmen unmenschlich geworden sind.“
Kein Mensch ist eine Insel. Und wer der Gesellschaft den Rücken kehrt, zahlt einen hohen Preis dafür. In Bachmanns und Henzes Hörspielklassiker kostet es die Leute ihre Menschlichkeit.
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Sendung: "Allegro" am 25. März 2025 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK