Indianapolis, Indiana, USA, 06. März 1923. Der Jazzgitarrist Wes Montgomery wird geboren. Er arbeitete tagsüber als Schweißer, und nachts spielte er Gitarre. Erst mit 35 Jahren wurde er mit Aufnahmen berühmt. Mit 45 starb er schon. Sein Sound hat Geschichte gemacht. Der Jazzgitarrist Wes Montgomery hat mit seinem weichen und warmen Klang viele Musiker beeinflusst. Das Geheimnis dahinter: ein prachtvoll groovender Daumen. Am 6. März wäre John Leslie Montgomery 100 Jahre alt geworden.
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Ein Mann übt Gitarre. Nachts. Fieberhaft. Stundenlang. Lässt die Finger hinauf und hinunter wandern am Griffbrett, will Läufe geschmeidig klingen lassen und kniffligen akkordischen Passagen etwas Flüssig-Selbstverständliches geben. Denn er hat, als er mit seiner Frau tanzen war, eine Aufnahme mit dem E-Gitarren-Pionier Charlie Christian gehört, der damals bei Benny Goodman spielte. Und nun will er können, was der kann. Um die Nachbarn nicht zu stören, lässt er ein Hilfsmittel der rechten Hand weg: das Plektrum, jenes Plättchen, mit dem Gitarristen ihre Töne präsenter, lauter und kräftiger machen können. Mit dem weichen Fleisch des Daumens streicht er über die Saiten. Das lässt die Nachbarn schlafen – und ihm, dem nächtlichen Nerd, beschert es einen ganz eigenen Klang. Der Mann ist John Leslie Montgomery, genannt "Wes". Der selbst zu einem der bedeutendsten Jazz-Gitarristen selbst wird – mit seinem weichen, ungemein seelenvollen Klang, den seine Rechte mit dem Daumen erzeugt.
So könnte man sie sich vorstellen: die Nachtstunden, in denen ein Klang entstand, der Geschichte machte und noch heute viele Gitarrenfans fasziniert. In einem für die Fernsehsendung "People in Jazz" gefilmten Interview mit Jim Rockwell, einem Radio-Discjockey aus Detroit, erzählte Montgomery unter anderem davon, wie er dazu kam, das Plektrum wegzulassen. Er sagte auch: "Wenn du ein paar Monate ohne Verstärker übst und schließt dann den Verstärker wieder an, hörst Du mehr Nebengeräusche als Töne." Die Töne selbst aber waren ihm wichtig – und er lernte, sie so zu formen, dass sie unverwechselbar waren. Wes Montgomery zählt noch heute zu den einflussreichsten Jazz-Gitarristen aller Zeiten – Teil einer frühen Dreieinigkeit, nach dem Franzosen Django Reinhardt und dem Amerikaner Charlie Christian. Doch seine Zeit war kurz. Wes Montgomery machte die ersten Plattenaufnahmen, als er schon fast 35 Jahre alt war. Und rund zehn Jahre später, am 15. Juni 1968, starb er mit 45 Jahren an einem Herzinfarkt, übrigens nur wenige Monate nach dem Fernseh-Interview für "People in Jazz".
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Wes Montgomery Interview and Performance Live on 'People in Jazz' (1968)
Er stammte aus Indianapolis, der Hauptstadt des Bundesstaats Indiana im Mittleren Westen. Am 6. März 1923 wurde John Leslie "Wes" Montgomery dort geboren. Er hatte drei Brüder und eine Schwester. Sein nächstälterer Bruder Monk Montgomery – später ein bekannter Jazz-Bassist – schenkte Wes eine viersaitige Tenorgitarre, als Wes elf oder zwölf Jahre alt war. Doch zu seinem eigentlichen Instrument fand Wes erst später, 1943, als er zwanzig war und bereits verheiratet. Da hörte er jenen Gitarrensound, den ihn dann nicht mehr losließ – denjenigen von Charlie Christian. Und schon kurze Zeit später kaufte er sich eine sechssaitige Gitarre, damals bereits ein Modell des Herstellers Gibson, den er stets bevorzugte. Er war gelernter Schweißer und spielte zunächst nur zum eigenen Vergnügen. Überlieferungen zufolge hatte er nie Unterricht und konnte auch keine Noten lesen. Seinen Klang und seine Fähigkeit, in Improvisationen packende Spannungsbögen zu schaffen, entwickelte er ganz aus sich selbst heraus. Dem Moderator Jim Rockwell sagte er: "Es gibt keine Anweisung die sagt, was du nicht tun sollst. Es ist alles in deinem eigenen Kopf."
Sehr bald schon machte Wes Montgomery öffentlich Musik, in Nachtclubs in Indianapolis – neben seinem Brotberuf. Er spielte in einer Gruppe mit seinen Brüdern, dem Bassisten Monk Montgomery und dem Vibraphonisten Buddy Montgomery. 1948 engagierte der Bandleader Lionel Hampton Wes Montgomery, fasziniert davon, einen Gitarristen gehört zu haben, der wie Charlie Christian klang. Doch die große Erfolgsgeschichte des Wes Montgomery als Solist in noch heute herausragenden Aufnahmen des Jazz begann erst viel später: 1959 hörte ihn der Saxophonist Julian "Cannonball" Adderley – und vermittelte ihn an das Label Riverside Records, wo er noch im Oktober desselben Jahres die Aufnahmen für das Album "The Wes Montgomery Trio" machte und schon drei Monate später die Einspielungen für sein wohl bestes Album nachlegte: "The Incredible Jazz Guitar of Wes Montgomery" – im Quartett mit den hervorragenden Partnern Tommy Flanagan, Klavier, Percy Heath, Bass, und Albert Heath, Schlagzeug.
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Wes Montgomery - live 1965 Jazz Icons DVD
Auf "The Incredible Jazz Guitar of Wes Montgomery" ist das Können des Gitarristen auf einem Gipfel. Und man kann die unterschiedlichen Qualitäten seines Spiels studieren. Das zweite große Merkmal bei ihm ist neben dem satten, weichen Daumen-Sound das Spiel in Oktavparallelen: Viele seiner Soli und seiner Themen-Expositionen gestaltete Montgomery mit diesem Stilmittel. Er griff die beiden Töne auf zwei Saiten, zwischen denen noch eine dritte lag, die er mit der Griffhand abdämpfte, aber mit dem rechten Daumen mit anschlug. Dadurch erklang zu den beiden Tönen der Oktavparallele ein stummer dritter Ton, der dem Gesamtklang etwas Perkussives verlieh: wie ein sanfter Trommelschlag, der synchron zu den Melodietönen gesetzt war. So schaffte es Wes Montgomery, Klänge von weicher Eleganz zu spielen, die zugleich kernige Attacke hatten. In seinem "D-natural Blues", einer Eigenkomposition, ist das besonders gut zu verfolgen.
In einem anderen Stück desselben Albums, "Airegin", einer berühmten Komposition von Saxophonist Sonny Rollins, kann man darüber staunen, wie schnell Montgomery mit der Daumen-Technik spielen konnte: Zu seiner Zeit schien es unvorstellbar, dass ein Daumen Töne so schnell anschlagen konnte. Soul und Drive hat Montgomerys Spiel in diesen Stücken. Zugleich fasziniert an diesen Aufnahmen dies: Ihr Urheber zelebriert nie Spieltechnik, sondern er macht stets tief beseelte Musik. In seinem Fernseh-Interview hat Montgomery auch von europäischen Kollegen erzählt, die ihm sagten, ihrer Meinung nach "spiele" er nicht auf der Gitarre, sondern er "nutze" sie – für den Ausdruck musikalischer Vorstellungen, die über ein jeweiliges Instrument erhaben sind.
Es gibt ein Video von 1965, in dem Wes Montgomery zu sehen – und hören! – ist, wie er den lyrischen Klassiker "‘Round Midnight" von Thelonious Monk spielt. Hier fasziniert, welchen musikalischen Einfallsreichtum Montgomery über den Harmonien des Stücks entfaltete: Es sind stets thematische Umschreibungen voller eigener Schönheit und ohne abgenutzte Figuren. Und gegen Ende sieht man, dass er den rechten Daumen sogar zu schnellen Tremolo-Einlagen einsetzte. Nicht ganz einfach!
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WES MONTGOMERY Round Midnight
Wes Montgomery hatte nur eine kurze Zeitspanne zur Verfügung – aber sein Einfluss ist enorm. Sein geschmeidiger Klang hat einen anderen Gitarrenstar des Jazz besonders geprägt: den 1943 geborenen George Benson. Aber viele andere würden nicht so klingen, wie man sie kennt, wenn Wes Montgomery nicht gewesen wäre. Der große Amerikaner Joe Pass nannte als seine wesentlichen Einflüsse das Dreigestirn Django Reinhardt, Charlie Christian und Wes Montgomery. Der seit den 1980er Jahren weltberühmte Jazzgitarrist John Scofield gesteht, dass er immer wieder versucht habe, Montgomery zu kopieren, es aber "too hard" fand. Scofields ebenso berühmter Kollege Pat Metheny, der große Ästhet unter den Gitarrenstars des Jazz und darüber hinaus, hat sich bewundernd über Montgomery und seine kühne Mehrstimmigkeit geäußert – und wenn man genau auf die Linienführung bei Metheny hört, ist ein starker Einfluss Montgomerys nicht zu leugnen. Sein Einfluss geht sogar noch weiter: Auch in der Popmusik fand Montgomerys smoother Sound ein Echo.
Das hatte ausgerechnet mit einem Bankrott zu tun: 1964 ging das Label Riverside Pleite. Montgomery rechnete daraufhin damit, seine sieben Kinder nunmehr wieder durch Fabrikarbeit ernähren zu müssen – wie er es bis Ende der 1950er Jahre getan hatte. Doch der Produzent Creed Taylor des erfolgreichen Labels Verve nahm sich seiner an und setzte auf ganz andere Musik als die, die Montgomery vorher gespielt hatte. Popsongs wie "California Dreaming" nahm Montgomery nun auf. Und bis auf ein einziges Album, "Smokin' At The Halfnote", war in diesen neuen Aufnahmen ein stark geglätteter Wes Montgomery zu hören. Doch, wie Jazz-Autor Marcus A. Woelfle in einer Rezension anmerkte: "Die übrigen Alben haben überwiegend kommerziellen Charakter, doch mit allen Wassern gewaschene Arrangeure wie Oliver Nelson, Don Sebesky und Claus Ogerman schufen für Bigbands und Streicher Backgrounds, die ihm zu unerwarteter Breitenwirkung verhalfen. Die natürliche Schönheit seines Spiels kam in diesem kunstgewerblichen Rahmen zur Geltung wie der Gesang eines gefangenen Vogels im goldenen Käfig. Der siebenfache Familienvater musste nie wieder in die Fabrik."
Ein "gefangener Vogel im goldenen Käfig": die Spätphase eines Musikers, der mit dem Sound seines weichen, groovenden Daumens einst eine ganz neue Ausdrucksfreiheit gefunden hatte. Dessen völlig eigener Klang, dessen untrügliches Gespür für Ästhetik ist das, was unsterblich geworden ist: hohe Kunst, erhaben über kommerzielle Mechanismen.
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Wes Montgomery 'California Dreaming' 1966)
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Sendung: "Allegro" am 06. März 2023 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK