Der Chopin-Wettbewerb brachte Yulianna Avdeeva frühen Ruhm. Trotzdem setzt die Pianistin mehr auf musikalische Entdeckung als auf Glamour. Wie es war, auf dem Flügel von Władysław Szpilman zu spielen, und was die Musik von Mieczysław Weinberg mit Winnie Puuh zu tun hat, verrät sie im Interview. Am 17. Oktober spielt Yulianna Avdeeva im BR-KLASSIK-Studiokonzert.
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BR-KLASSIK: Resilienz, also Widerstandsfähigkeit, aber auch Anpassungsfähigkeit, ist ein Modewort geworden, ein Begriff aus dem Kontext Zeitmanagement, Arbeitsorganisation, Führungskräfteentwicklung. Yulianna Avdeeva, was bedeutet für Sie ganz persönlich Resilienz? Wieviel Resilienz brauchen Sie als Pianistin?
Yulianna Avdeeva: Die Frage habe ich mir so noch nicht gestellt. Für mich ist Resilienz nicht nur eine Anweisung an das alltägliche Leben, sondern auch eine Charaktereigenschaft, die sich in der Haltung eines Menschen zeigt, gerade wenn es unkomfortabel und ungemütlich wird, also in einer Lage, die viel Kraft und eine starke innere Haltung verlangt, um zu überleben und sich als Mensch weiter treu zu bleiben.
BR-KLASSIK: Haben Sie sich selbst Resilienz verschrieben?
Yulianna Avdeeva: Ich glaube schon, in vielerlei Hinsicht, auch wenn es immer sehr schwierig ist, objektiv über sich selbst zu sprechen. Ich mag das auch nicht.
BR-KLASSIK: Sie haben Ihre letzte CD "resilience" genannt. Die Aufnahmen sind im Winter 2020/21 entstanden, als das Konzertleben pandemiebedingt im Lockdown war. Wie geht es Ihnen heute, wenn Sie sich an diese Zeit erinnern?
Yulianna Avdeeva: Die Zeit der Pandemie war eine einmalige Erfahrung. Zum ersten Mal habe ich gespürt, wie schnell sich die Welt verändern kann und Abläufe, an die ich mich gewöhnt hatte, innerhalb von wenigen Tagen nicht mehr vorhanden waren. Das Musikleben fand so gut wie nur noch im digitalen Raum statt. Und dann hat mich im September 2020 die Familie von Władysław Szpilman kontaktiert und eingeladen, auf dem Hausflügel von Szpilman zu spielen.
BR-KLASSIK: Szpilman ist der breiten Öffentlichkeit 2002 durch den Film "Der Pianist" von Roman Polanski bekannt geworden …
Yulianna Avdeeva: Der Film basiert ja auf den Tagebüchern von Szpilman, der eine sehr schillernde und vielseitige Persönlichkeit war. Die Auseinandersetzung mit seinem Instrument war für mich absolut einmalig, weil das Klavier der engste Freund eines Pianisten ist. Mit dem Flügel teilt man sein Innerstes, Gefühle und Gedanken, die man oft nicht in Worte fassen kann. Ein Flügel kennt einen wohl besser als man selbst. Als ich mich an diesen Flügel gesetzt habe, war das schon ein sehr bewegender Moment für mich, der immer in meiner Erinnerung bleiben wird. Trotz all seiner Erlebnisse und schwierigen Zeiten, die Szpilmans Lebensgeschichte prägten, hat er laut seiner Familie und vielen Zeitzeugen auch nach dem Holocaust und dem Ende des Zweiten Weltkriegs seine Menschlichkeit nicht verloren.
Władysław Szpilman muss ein großes Herz gehabt haben.
Er hat immer noch den Menschen vertraut, war sehr offen und wohl auch sehr lustig im Umgang. Er muss ein großes Herz gehabt haben. Über seinen Sohn habe ich die Noten der Suite "The Life of the Machines" von 1933 erhalten. Das ist insofern bemerkenswert, weil fast alle Werke, die Władysław Szpilman vor dem Zweiten Weltkrieg komponiert hat, verloren sind. Das Manuskript dieses Stückes – eine persönliche Kopie – wurde aber im Jahr 2000 in einem Keller in Kalifornien gefunden.
Yulianna Avdeeva spielt am Dienstag, 17. Oktober, 20 Uhr, live im Studio 2 im BR-Funkhaus in München Werke von Frédéric Chopin, Władysław Szpilman, MieczysławWeinberg und Sergej Rachmaninow. BR-KLASSIK überträgt das Konzert ab 20:05 live im Radio.
Er hatte diese Noten einem Freund, der nach Amerika emigriert ist, in den 1930er-Jahren mitgegeben. So kann man jetzt ein klein wenig kennenlernen, wie Szpilman vor dem Krieg komponiert hat. Nach dem Krieg konnte Spzilman kein einziges Werk mehr aus dem Gedächtnis rekonstruieren. Allein vor dem Hintergrund dieser Tatsache spüre ich eine unglaubliche Aufregung. Was muss ein Mensch erlebt haben, dass er sich an eigene Werke nicht mehr erinnern kann.
BR-KLASSIK: Das war ein Trauma!
Yulianna Avdeeva: Ja, und daher ist es ein Geschenk, dass wir diese Suite haben. Nach dem Krieg hat Władysław Szpilman keine klassische Musik mehr komponiert.
BR-KLASSIK: Sie haben eindrücklich diese intime Beziehung des Pianisten zum Instrument geschildert. Anders als ein Bläser oder ein Streicher müssen Sie sich auf Konzertreisen ein Instrument immer wieder neu zu eigen machen. Wie machen Sie das?
Yulianna Avdeeva. | Bildquelle: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Ryo Aoki Yulianna Avdeeva: Das ist tatsächlich der Fluch und Segen der Pianisten. Es gibt aber auch sehr positive Seiten, weil man sich der Musik immer wieder neu annähert und dabei interpretatorisch neue Sachen entdeckt. Ich finde diesen Prozess sehr spannend, wie man einen Flügel kennenlernt. Mit der Zeit habe ich das ganz gut gelernt, und ich weiß recht schnell, worauf ich mich einlassen muss. Aber ich finde diesen Moment immer unglaublich wichtig, weil ich ohne Flügel stimmlos bin. Ich muss mit dem jeweiligen Instrument eine gemeinsame Sprache finden. Und Flügel haben unterschiedliche Charaktere. Das ist ein wenig wie mit Menschen. Manchmal versteht man sich auf Anhieb, manchmal braucht es ein wenig länger.
BR-KLASSIK: Sie haben auch auf historischen Instrumenten gespielt, beispielsweise Chopins Musik auf einem Erard-Flügel, dann wieder Bach auf einem modernen Instrument. Was ist der Mehrwert für Sie im Umgang mit historischen Instrumenten?
Yulianna Avdeeva: Die historischen Instrumente geben mir die Möglichkeit, in die Zeit einzutauchen, in der der jeweilige Komponist gelebt hat. Ich finde das extrem inspirierend, festzustellen, wie zum Beispiel Artikulation auf diesen Instrumenten funktioniert hat. Phrasierungen waren anders, weil der Klang anders erzeugt wurde und meist kürzer im Nachklang war. Auch der Pedaleinsatz ist sehr interessant. Es gibt dann viele Möglichkeiten, diese Erfahrungen und musikalischen Ideen, auf ein modernes Instrument zu übertragen. Ich bin da gewissermassen Übersetzerin.
Musik von Mieczysław Weinberg kenne ich aus den Zeichentrickfilmen meiner Kindheit.
BR-KLASSIK: Auf einem modernen Flügel spielen Sie jetzt im Studiokonzert Musik von Szpilman, Chopin, Weinberg und Rachmaninow. Was liegt Ihnen an dieser Zusammenstellung?
Yulianna Avdeeva: Die erste Konzerthälfte ist Komponisten gewidmet, die polnische Wurzeln haben. Weinberg wurde in Warschau geboren und ist, nachdem seine gesamte Familie im KZ umgebracht worden ist, in die Sowjetunion gegangen. Er hat also einen ganz anderen Weg eingeschlagen als Chopin, der in den Westen gegangen ist. Ich bin Gidon Kremer übrigens sehr dankbar, dass er mir diese wunderbare Welt von Mieczysław Weinberg geöffnet hat. Das erste Werk, das ich gespielt habe, war das Klavierquintett in der Fassung für Kammerorchester und Schlagzeug. Und eine Seite gehört auch zu dieser Persönlichkeit, die ich nie realisiert hatte. Denn Musik von Weinberg kenne ich schon aus meiner Kindheit. Weinberg hat nicht nur klassische Musik komponiert, sondern auch Filmmusik. Einer meiner Lieblingszeichentrickfilme war die sowjetische Version von "Winnie the Pooh" mit einer schönen und einfach rührenden Musik, die direkt ins Herz geht und an die ich mich noch sehr gut erinnern kann. Diese Musik ist von Weinberg, wie ich erst realisierte, als ich mich mit seinem Klavierquintett auseinandergesetzt habe. Im zweiten Konzertteil spiele ich vier ausgewählte Preludes aus Opus 23 von Sergej Rachmaninow und meine eigene Fassung der zweiten Klaviersonate.
BR-KLASSIK: Rachmaninow hat diese Sonate 1913 komponiert, dann aber 1931 revidiert. Auch schon Horowitz hat seine eigene Fassung gespielt, weil die Fassung von 1931 ein bisschen entschlackter war, aber gerade bei Pianistinnen und Pianisten viel Kritik hervorgerufen hat. Sie haben nun auch eine eigene Fassung.
Yulianna Avdeeva: Ja, das ist richtig, ich habe mich so weit aus dem Fenster gelehnt (lacht). Ich respektiere Rachmaninow als unglaublichen Pianisten und halte ihn für einen der faszinierendsten Persönlichkeiten in der Musikgeschichte überhaupt. Natürlich ist mir das auch nicht leicht gefallen. Ich nehme die Originalfassung von 1913 als Grundlage. Er selbst war damit nicht zufrieden, aber er war wohl nie zufrieden mit seinen Werken, auch nicht mit der revidierten und kürzeren Fassung von 1931. Das macht es nicht unbedingt leichter. In der Originalfassung gibt es aber viele Episoden, die ich wahnsinnig schön und wichtig für die gesamte Form dieser Sonate finde und die mir in der revidierten Version fehlen. Oft heißt es leider, dass diese Musiksprache nicht modern und aus der Zeit gefallen sei. Das finde ich gar nicht. Er verwendet besondere Harmonien, die Textur ist unglaublich polyphon und sehr kompliziert. Leider gibt es von Rachmaninow keine Aufnahme dieser Sonate.
BR-KLASSIK: Rachmaninow war ein Weltbürger und viel unterwegs. Sie sind das auch, leben aber schon lange in München. Inwiefern ist München Heimat für Sie?
Yulianna Avdeeva: München ist mein Zuhause, meine Burg, in der ich mich sehr wohlfühle. Die Stadt finde ich sehr inspirierend, einerseits durch das reiche Kulturleben, angefangen mit den fantastischen Orchestern wie dem BRSO, der Bayerischen Staatsoper und den Münchner Philharmonikern und all den Ausstellungen und Museen. Andererseits schätze ich hier sehr die Nähe zu wunderschöner Natur. Innerhalb einer halben Stunde kann man sich komplett in der Natur verlieren und abschalten vom Alltag. Ich kann zur mir selbst finden – in einem Wald oder an einem See oder in den Bergen, wo eine andere Geschwindigkeit die Welt bestimmt.
BR-KLASSIK: Inwieweit finden Sie hier einen Ausgleich zu ihrer Arbeit?
Yulianna Avdeeva: Manchmal brauche ich das einfach, diese Art Entschleunigung in der Natur. Es war auch einschneidend festzustellen, wie ungewöhnlich diese plötzliche Bremse während der Pandemie gewirkt hat. Ich finde es ganz wichtig, immer wieder Zeit zu finden, in der man sich neu mit sich selbst auseinandersetzt als Mensch und auch als Künstler und Erlebnisse mit Familie und Freunden teilt.
BR-KLASSIK: Jetzt ist es schon 13 Jahre her, dass Sie den Internationalen Chopin-Wettbewerb in Warschau gewonnen haben – als erste Frau nach Martha Argerich. Das wird immer gerne in Ihrer Vorstellung erwähnt. Ist dieser Wettbewerb noch ein Thema, auf das Sie gerne angesprochen werden oder ein abgeschlossenes Kapitel?
Yulianna Avdeeva: Für mich wird dieses großartige Erlebnis immer in meiner Erinnerung und Seele bleiben. Das ist wohl vergleichbar mit einer Goldmedaille bei Olympischen Spielen, die man nicht vergisst. Das war einfach eine sehr besondere Zeit, weil 2010 auch noch ein Jubiläumsjahr war, in dem Chopins 200. Geburtstag gefeiert wurde. Das BR-KLASSIK-Studiokonzert am 17. Oktober fällt übrigens auf Chopins Todestag, der in Warschau auch immer groß bedacht wird. Für mich bleibt da immer eine sehr besondere Beziehung zu Chopin, obwohl in meiner Fantasie nur ein sehr subjektives Bild von ihm als Persönlichkeit wirkt. Aber seine Musik bedeutet mir sehr viel. Ich werde nicht müde, immer wieder Neues zu entdecken – irgendeinen kleinen Schatz in den Noten. Chopins Musik ist so reich und bewegt mich sehr stark. Ich liebe sie einfach und das wird hoffentlich auch so bleiben.
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