Die Zukunft der Götter scheint in Wagners "Ring des Nibelungen" von Anfang an vorherbestimmt zu sein, die der Menschen jedoch völlig unklar. Das Schicksal spielt eine wichtige Rolle – verkörpert durch drei Nornen. Aber wer oder was genau sind diese mystischen Wesen, die den Lauf der Welt bestimmen und das goldene Seil des Schicksals spinnen?
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Das Schicksal der Welt hängt an einem winzigen Gegenstand: einem Ring. Von seinem Schöpfer Alberich mit einem Fluch beladen, wandert er von Hand zu Hand, wird vom Symbol der Macht und zum Symbol der Liebe. Er wird vom Herrschaftsring zum Ehering. Und um genau den geht es im Zwiegespräch zwischen Brünnhilde und ihrer Schwester Waltraute im ersten Akt der "Götterdämmerung".
Was im vierten Teil von Richard Wagners "Ring des Nibelungen" geschieht, kurzweilig zusammengefasst, sehen Sie hier.
Es wäre ganz einfach, das Schicksal der Welt in andere Bahnen zu lenken. Brünnhilde müsste nur dem Rat ihrer Schwester folgen und den Ring den Rheintöchtern zurückgeben. Aber sie kann sich von der Preziose, die sie am Finger trägt, nicht trennen, da sie für sie ein Zeichen des Bundes ist, den sie mit Siegfried eingegangen ist. In diesem Moment wäre das Ablegen des Eherings ein Bruch mit dem Mann. Deshalb nimmt das Schicksal weiterhin seinen Lauf, genauso wie es von Anfang an vorherbestimmt war.
Die Nornen, historische Illustration um 1880 | Bildquelle: picture-alliance/dpa Es sind die drei Nornen, die den Lauf der Welt bestimmen und das goldene Seil des Schicksals spinnen, manchmal als geradlinigen Faden, manchmal als verworrenes Knäuel. In der nordischen Mythologie heißen sie Urd (das Schicksal), Verdandi (das Werdende) und Skuld (die Schuld, also die Konsequenz sämtlichen Handelns). Sie stehen für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und leben am Fuß der Weltesche, die sie mit dem Wasser der daneben entspringenden Schicksalsquelle pflegen und am Leben erhalten.
Dass drei rätselhafte Frauen das Schicksal von Göttern und Menschen bestimmen, hat die nordische Mythologie mit der griechischen und der römischen gemein. Dort sind es die Moiren beziehungsweise die Parzen, die als Schicksalsgöttinnen den Lauf der Dinge lenken, deuten oder voraussagen. Wie die Nornen spinnen diese den Lebensfaden. Anders als die Moiren und Parzen entscheiden die Nornen das Schicksal der Menschen jedoch durch das Los. Die Vorsehung ist also eigentlich Zufall.
Die Namen der drei an einem Seil spinnenden Schicksalsfrauen enthält uns Wagner zwar vor, zu Beginn der "Götterdämmerung" tauchen sie jedoch in ähnlicher Funktion auf, wie in der nordischen Mythologie.
Nicht hell eracht ich das heilig Alte.
Die erste Norn, die für die Vergangenheit steht, rollt die gesamte graue Vorgeschichte des "Rings" noch einmal auf und berichtet von der Urschuld: die Verletzung der Weltesche durch Wotan, der sich aus deren Holz einen Speer schnitt und damit die bis dahin unberührte Natur zum Verdorren brachte. Die zweite, für die Gegenwart zuständige Norn erzählt dann, was bisher im "Ring" geschah, woraufhin die dritte den Untergang der Götter als Konsequenz aller bisherigen Geschehnisse in der Zukunft voraussagt. Schließlich weiß sie jedoch nicht mehr weiter, und ihr reißt das Seil. Es gibt keine Zukunft mehr.
Ludwig II. | Bildquelle: picture-alliance/dpa Seinem Gönner Ludwig II. schrieb Wagner aus dem Schweizer Exil von den Schwierigkeiten bei der Konzeption und Komposition des Beginns der Götterdämmerung: "Vor der Nornenszene des Vorspiels der Götterdämmerung stand ich mit wahrem Grauen und glaubte lange Zeit, mich nicht überwinden zu können, damit mich einzulassen." Schließlich sagte er dieser Szene jedoch durchaus selbstbewusst einen großen Erfolg und eindrucksvolle Wirkung voraus: "Aus Grauen und Angst wob ich endlich selbst an dem Seile, welches, wie es nun kunstvoll gesponnen vor mir liegt, mir allerdings zu seltsam erhebender Freude gereicht: so etwas hat doch noch keiner gesponnen, - so sage ich mir nun, und ich vermute, daß Jeder mir das einst noch sagen wird." Dies schrieb Richard Wagner am 5. Mai 1870 in Tribschen an Ludwig II.
Als Prophet des Schicksals seiner Bühnenfiguren zeigt sich Wagner gerade auch durch seine Leitmotivtechnik, indem er immer wieder kommende Ereignisse als Konsequenz der aktuellen Situation in seiner Musik anklingen lässt und so ein Stück der Zukunft vorausnimmt.
Der 'Ring des Nibelungen' sei wie ein riesiges Adressbuch, sagte Claude Debussy. Denn dieses Riesenwerk strotze nur so von Leitmotiven. Manche Experten meinen, es seien über 200. Jedes steht für eine bestimmte Person oder Emotion. Wie Richard Wagner sie einsetzt und welche Vorbilder er hatte, erfahren Sie hier.
"Die Nornen". - (Figurinen der Urauffuehrung Bayreuth, 17.August 1876). Farblithographie nach Karl Emil Doepler | Bildquelle: picture-alliance/dpa Das Motiv, das als Schicksalsmotiv bezeichnet wird, ist eine düstere, unheilvolle Tonfolge, die zum ersten Mal in der "Walküre" erklingt und zwar bei der sogenannten Todesverkündigung. Brünnhilde eröffnet Siegmund, dass er bald sterben wird. Dies ist im "Ring" die erste Begegnung eines göttlichen Wesens und eines Menschen und damit ein Schlüsselmoment. Brünnhilde, die Kriegsgöttin, empfindet erstmals ein bisher nie gekanntes Gefühl: Mitleid. Diese todverheißende Tonfolge tauch gleich zu Beginn der "Götterdämmerung" erneut auf. Hier weist sie auf den bevorstehenden Tod Siegfrieds hin. Auch der Fluch, mit dem Alberich im "Rheingold" den Ring und damit die gesamte Weltordnung belegt, zieht sich mit dem dazugehörenden Motiv musikalisch durch alle vier Abende. Die Figuren können ihm nicht entkommen. Dieser Fluch wird zum Fatum, das alle in den Abgrund reißt.
Sogar das Reißen des Seils führen die Nornen auf den Fluch zurück. Die Musik sagt jedoch etwas anderes. Plötzlich und unvermittelt erklingen im Orchester das Schwertmotiv und der Hornruf. Ist es also in Wirklichkeit Siegfried, der das Seil zum Reißen und die Welt zum Untergehen bringt?
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Wagner Leitmotives - 53 - Fate
Das Schicksal wird im "Ring" vor allem als die Konsequenz des eigenen Handelns verstanden, als das, was wir durch eigene Schuld erzeugen. Dies ist ein ähnliches Konzept wie das Prinzip des Karmas aus der östlichen Philosophie. Gutes wird belohnt, Schlechtes bestraft, um es auf diese einfache Formel zu bringen. In diesem Sinn ist der Untergang der Götter bei Wagner auch die logische Folge von Wotans Urschuld. Interessanterweise scheint die Menschheit von der titelgebenden Götterdämmerung verschont zu bleiben, da Wagner in den Regieanweisungen zu den letzten Momenten des "Rings" schreibt, dass "Männer und Frauen in höchster Ergriffenheit dem wachsenden Feuerschein am Himmel" zusehen.
Die Menschen haben also eine Zukunft, ihr Schicksalsseil ist noch nicht gerissen. Sie müssen erst ihren eigenen, von Vorsehung, Zufall oder Karma geprägten Lebensweg gehen. Und sie haben noch genügend Gelegenheiten, sich schuldig zu machen und dafür zu büßen.
Verflochten ist das Geflecht. Ein wüstes Gesicht wirrt mir wütend den Sinn.
Die Nornen durchschauen nicht mehr, was in der Welt aktuell geschieht. Die Zukunft der Menschheit liegt nicht mehr in ihren Händen. Ihre Funktion als Seherinnen und Bestimmerinnen aus der Götterwelt haben sie verloren. Sie treten einfach ab. Niemand wird sie vermissen. Wenn eine neue Welt entsteht, wird diese ihr eigenes Schicksal haben, von keiner Norn vorhersehbar.
Sendung: "Festspielzeit" – "Rheingold" aus Bayreuth ab 26. Juli 2023 um 17:57 Uhr auf BR-KLASSIK