BR-KLASSIK

Inhalt

Dirigent Andrew Litton "Ballett dirigieren ist eine andere Welt"

"Wings of memory" heißt das dreiteilige Programm, das am Bayerischen Staatsballett heuer zur Ballettfestwoche gezeigt wird. Dirigent Andrew Litton erzählt, warum die Arbeit von Pina Bausch auch 50 Jahre nach der Uraufführung nicht gealtert ist, was gute Ballettmusik ausmacht und warum Dirigieren in diesem Metier eine eigene Welt ist.

Das Frühlingsopfer | Bildquelle: © Serghei Gherciu

Bildquelle: © Serghei Gherciu

BR-KLASSIK: "Wings of Memory" bietet ganz unterschiedliche Musikstücke. Vom Barock geht es bis ins 20. Jahrhundert, von Vivaldi und Marcello über Claude Debussy zu Igor Strawinsky. Was macht denn Musik überhaupt zu guter Ballettmusik?

Andrew Litton: Fast jede Musik kann gute Tanzmusik sein, wenn die Choreografie dazu Vision und Fantasie hat. Ich bin Musikdirektor am New York City Ballet, und wir machen alles querbeet durch 400 Jahre Musik. Und manches entsteht auch erst während der Probenarbeiten. Es gibt also keine vor vornherein feststehende Messung, was funktioniert oder nicht, bis man das Endprodukt sieht. Interessant ist, dass George Balanchine, einer der berühmtesten Choreografen im 20. Jahrhundert, sehr gut mit Igor Strawinsky befreundet war. Und er fühlte irgendwie, dass "Sacre" nie choreographiert werden sollte. Ist das nicht interessant? Da fühlt man sich fast als Verräter, wenn man es dann doch macht. Aber natürlich kann und sollte es choreografiert werden, wie es ja ursprünglich gedacht war. Und diese Pina-Bausch-Choreografie ist so aufregend und bringt die Energie und Brutalität, die im Stück liegen, so perfekt heraus. Ich freue mich sehr, an dieser Produktion beteiligt zu sein.

BR-KLASSIK: Was ist wichtig beim Dirigieren von Ballettmusik?

Szene aus "Bella Figura" von Jiri Kylián | Bildquelle: W. Hösl Szene aus "Bella Figura" von Jiri Kylián am Bayerischen Staatsballett | Bildquelle: W. Hösl Andrew Litton: Ich habe am Anfang nur Oper und Symphonisches dirigiert, bevor ich vor neun Jahren beim New York City Ballet angefangen habe. Ich musste also schnell viel lernen, um plötzlich ein Ballettdirektor zu werden. Der größte Unterschied ist, dass du im Konzert dem Klang folgst. Beim Ballett folgst du der Bühne. Es gibt viele Stücke, wo das Orchester genau dann spielt, wenn der Tänzer auf dem Boden landet. Alle Tänzer sind unterschiedlich groß, und sie springen unterschiedlich hoch. Es ist also eine große Herausforderung, genau zu wissen, wann dieser Schlag passieren soll. Ich musste sehr schnell lernen, dass das eine ganz andere Welt ist. Und es gibt so viele Tänze, die voller Energie stecken. Wenn man also die Musik zu schnell oder zu langsam spielt, kann man damit die Performance der Tänzer kaputtmachen. Und das Heikle ist ja: Ich bekomme erstmal nichts mit, denn sie sehen immer perfekt aus, als wäre alles ganz leicht. Aber natürlich ist es enorm anstrengend für sie.

BR-KLASSIK: Ist es schonmal vorgekommen, dass jemand aus dem Takt gekommen ist und man sich finden muss?

Andrew Litton: Das ist mir bisher zum Glück noch nie passiert. Ich habe das Gefühl, dass die Tänzerinnen und Tänzer immer so professionell sind und sehr hart arbeiten. Spannend ist allerdings, dass die Truppe mit einer bestimmten Aufnahme von "Sacre" arbeitet, die Pina Bausch liebte, als sie es selbst einstudierte. Wenn wir als Live-Musik jetzt dazukommen, sollten wir so nah wie möglich an dieser Aufnahme sein, um sie nicht zu irritieren. Die größte Herausforderung ist immer, eine Art Spontaneität zu haben und so strikt wie möglich der Performance zu folgen. Und dann wird schon alles gut gehen, hoffe ich mal (lacht).

BR-KLASSIK: Und wie ist es mit der Lautstärke auf der Bühne? Das geht ja manchmal gut zur Sache, wenn da getanzt wird. Beeinflusst Sie das im Orchestergraben?

Andrew Litton: Es kann schon vorkommen, ja, aber diese Choreografie ist grundsätzlich sehr schnell und aggressiv. Und es gibt zum Beispiel einen Moment am Ende des ersten Teils, wenn plötzlich alles stoppt. Und man hört nur die Tänzerinnen und Tänzer, die hecheln und tief durchschnaufen. Ein sehr beeindruckender Moment, weil sie total still dastehen aber extrem atmen. Und ich glaube, das ist es, was Pina Bausch wollte. Uns daran erinnern, wie fragil wir sind, dass wir Sauerstoff zum Leben brauchen. Außerdem tanzt die Truppe auch auf Torf und Rindenmulch, also ist es streckenweise sehr dreckig und staubig. Und das löst natürlich auch einen direkten Effekt aus.

BR-KLASSIK: Apropos Effekt: Es sind ja noch zwei andere Choreografien zu sehen an dem Abend. Inwiefern können Sie da noch verstärken vom Graben aus?

Chroeograph, Regisseur Sidi Larbi Cherkaoui | Bildquelle: © Tilo Stenge Der Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui | Bildquelle: © Tilo Stenge Andrew Litton: Das erste Stück, "Bella Figura" von Jiri Kylián, hat gar kein Orchester, die Musik wird zugespielt. Damit habe ich also nichts zu tun, außer dass ich mir anschauen kann, wie wunderbar es ist. Das zweite Stück, "Faun" von Sidi Larbi Cherkaoui, arbeitet viel mit der Musik von Claude Debussy: Die ist so verträumt und romantisch, also ganz anders als "Sacre" von Strawinsky. Natürlich ist es auch eine Chance für das Staatsorchester, zu zeigen, wie breit es aufgestellt ist. Bei aller Unterschiedlichkeit sind die beiden Stücke und Komponisten auch eng miteinander verwoben.

Der junge Strawinsky begann seine Karriere bei den Ballets Russes genau zu der Zeit, als "Der Nachmittag eines Fauns" aus der Taufe gehoben wurde. Strawinsky nahm den Naturgedanken auf, und ganz konkret die Idee, ein Ballett mit einem Solo-Instrument beginnen zu lassen. Insgesamt hatten beide Werke einen enormen Einfluss auf die Gesellschaft. Und ich finde, dass gerade die Choreografie von Pina Bausch dann nochmal ein ganz eigenes Level gesetzt hat. Ihre Arbeit ist so, sagen wir, "roh", dass man diese idealisierte Schäfer- und Faunwelt der mystischen Antike unmittelbar umgesetzt fühlt. Und damit dem Willen von Strawinsky sehr nahekommt, der uns mit seinen bis dahin nie dagewesenen Klangfarben und dieser schockierenden Rhythmushärte in eine andere Welt katapultiert hat.

Sendung: "Allegro" am 8. April 2025 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (0)

Bitte geben Sie höchstens 1000 Zeichen ein. (noch Zeichen)
Bitte beachten Sie, dass Ihr Kommentar vor der Veröffentlichung erst noch redaktionell geprüft wird. Hinweise zum Kommentieren finden Sie in den Kommentar-Richtlinien.

Spamschutz*

Bitte geben Sie das Ergebnis der folgenden Aufgabe in Ziffernschreibweise ein:

Neun plus drei ergibt?
Zu diesem Inhalt gibt es noch keine Kommentare.

Mehr zum Thema

Neu bei BR-KLASSIK

    AV-Player