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Bilanz Donaueschinger Musiktage 2024 Back to the moods

Beim ältesten Musikfestival für Zeitgenössische Musik werden auch dieses Jahr alle Register kompositorischer Ausdrucksmöglichkeiten gezogen. Der Fokus liegt aber auf leisen und intimen Momenten.

Simon Steen-Andersen nach der Uraufführung seines Stücks "grosso" bei den DMT 2024 | Bildquelle: SWR/Astrid Karger

Bildquelle: SWR/Astrid Karger

Der berühmteste Herbstmarathon im Bereich der Zeitgenössischen Musik findet alljährlich im beschaulichen Donaueschingen am Rand des Schwarzwalds statt. Dank der glücklichen geschichtlichen Fügung startet dort seit gut 100 Jahren alles, was Rang und Namen hat, und auch jene, die dort noch hinkommen wollen. Im Festivaljahrgang 2024 haben vor allem die Langsamen das Rennen gemacht – Werke, die sich Zeit lassen für das Erkunden des Inneren und Intimen. Musik, die aufzeigt, was vor der Stille gewesen sein, und wohin ein Klang gehen könnte. Partituren, die Geräuschhaftigkeit subtil in einen Klangteppich verweben, ohne dass klar ist, woher welche Sounds stammen: Live erzeugt von den Musizierenden, elektrisch verfremdet, vom Band zugespielt – oder doch ein welkes Blatt, das am Rand eines Beckens zittert.

Wir sind Eins

"Zerbrechlichkeit" ist ein Wort, das einem oft im Verlauf des gesamten Festivals begegnet, sei es im Programmbuch oder in den Synapsen während und nach den Aufführungen. Wenngleich das Motto der diesjährigen Ausgabe "alonetogether" etwas manieriert mit dem Paradoxon liebäugelt, wonach Musik immer ein Amalgam aus Individuum und Gemeinschaft ist, so greift es auf übergeordneter Ebene auch hier: Wir sind eins, könnte man sagen, vor allem, wenn es um urmenschliche Empfindungen geht. Wie aber nun Ängste, Hoffnung und Glück klingen, und was dieser Klang in jedem Menschen auslöst, ist so divers, wie unsere Gesellschaft.

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Projekt mit Geflüchteten

Das war auch Basis für die Arbeit der Cellistin und Komponistin Severine Ballon, die ein Projekt mit Geflüchteten aus Donaueschingen zeigte, das mit seiner schlichten Kargheit berührte und glücklicherweise gar nicht versuchte, doppelte Böden zu ziehen. Hängende Streichinstrumente sind nur Symbol, mehr Bühnenbild als Klangkörper. Wo keine gemeinsame Sprache vorherrscht (auch der musikalischen Notation), helfen Gesten, Rhythmus, Melodiefetzen. So erzählen alle Menschen auf der Bühne von sich, ihren Erinnerungen, ihren Wünschen, ohne, dass wir genau erfahren können, was das sein könnte. Aber die Wirkung dieser teilweise berstenden Sprachlosigkeit ist beklemmend – und befreiend zugleich: denn die Geflüchteten bestimmen das Narrativ, haben sich über Monate selbst Sprache und Form erarbeitet, sind nicht Teil eines Zeigefinger-Showrooms von und für den Westen. Bleibt natürlich zu hoffen, dass derlei Aktionen keine singuläre Angelegenheit bleiben – der Aufführungsort in der Aula des Gymnasiums wäre zumindest ein Wink in Richtung Lehrplan.

Eine Symphonie aus zehn Drumsets

"Streik" von Enno Poppe für 10 Drumsets bei den DMT 2024 | Bildquelle: SWR/Ralf Brunner "Streik" von Enno Poppe, bei den Donaueschinger Musiktagen 2024 | Bildquelle: SWR/Ralf Brunner Enno Poppe wiederum suchte Stille in einem Stück, das diese von vornherein eher nicht evozierte. "Streik" hat der Komponist in bewährter Ein-Wort-Punch-Manier sein neues Werk genannt, für zehn Drumsets mit unterschiedlicher Stimmung. Es ist ein großes Glück, dass Poppe zu klug und talentiert ist, um auf schnöden Effekt aus zu sein. Gestreikt wird hier nur bei den herkömmlichen Erwartungshaltungen an orgiastisch sich steigernde Wallungen, in die man sich hineingrooven könnte. Bei Poppe muss sich das Ensemble finden, ausloten, Kettenreaktionen testen, um immer wieder kantig abzubrechen. Wie da plötzlich Tonhöhen eine Rolle spielen, der Nachhall eines Beckens mit dem trockenen Cut einer Snare zur Melodie wird, ist von ungeahnter Schönheit. Und von bezwingend symphonischem Geist: Über die Dauer von etwa einer Stunde (in 40 Minuten hätte das aber auch funktioniert) entwickeln sich Felder wie bei einem Tongemälde. Poppe schafft es, die anfangs eruptiven Ausbrüche zu einem homogen Ganzen zu bündeln und reüssiert in dem Wunsch, das Instrument aus der solistisch konnotierten Rhythmusecke zu bugsieren.

Mark Andre schreibt für ein verstorbenes Kind

Pierre-Laurent AImard spielt "...selig ist..." von Mark Andre bei den DMT 2024 | Bildquelle: SWR/Astrid Karger Pierre-Laurent Aimard spielt "...selig ist..." von Mark Andre bei den DMT 2024 | Bildquelle: SWR/Astrid Karger Apropos Erwartungshaltungen: Die sind beim Flüster-Magier Mark Andre auch gerne gesetzt. Der französische Komponist, heuer 60 geworden, hat sich vor allem einen Namen gemacht mit seinen tief nach innen gerichteten, christlich inspirierten Transzendenz-Gratwanderungen an der Schwelle zur Hörbarkeit. In seiner ersten Arbeit für den Pianisten Pierre-Laurent Aimard, der schon seit Jahrzehnten eine Lanze für die Zeitgenössische Musik bricht, hat er die Erinnerung an ein verstorbenes Kind verarbeitet. "…selig ist…" nimmt Bezug auf einen Abschnitt im Matthäus-Evangelium, in dem es heißt "Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden." Da hätte man so manches erwartet, aber kaum einen derart kernig-knarzigen Parforceritt durch die Akkordblocklandschaft der 88 Tasten. Sicher, es gibt traumverloren Ziseliertes in höchsten Höhen, wundersame Nachhalleffekte mit gezupften und abgedämpften Saiten (manchmal im Dialog und unter Beihilfe von Elektronik), aber über weite Strecken ist das doch sehr harte Kost – den Trost muss man sich erstmal verdienen. Am Ende nämlich baut sich ein elektronisch gesampelter Orkan auf, beißend-klagend getriggert durch einzelne Basstöne, die wie Raketen in den Raum schnalzen, was toll geschrieben, aber genauso toll interpretiert ist. Und dann? Rupft Aimard zeitgleich zum Abbruch der Zuspielung eine Saite im offenen Flügel, der Nachhall und die Obertöne sind irrlichternd, bleibt gebückt wie über einem Grab und lauscht. Und tupft. Und verweigert. Groß!

Simon Steen-Andersen mal ohne Video

Fast schon klassisch ging's aber auch zu am Wochenende in Donaueschingen, beim ersten Auftritt des SWR Symphonieorchesters am Freitag. In der proppenvollen Baarsporthalle lieferte Simon Steen-Andersen seine erste Arbeit ohne Video ab, und siehe da: Man hat die Bilder nicht vermisst. Gleichwohl verzichtete der gebürtige Däne nicht auf seine altbewährten Schnipsel-Zuspielungen, elektronischen Verfremdungen und mischte auch mal eine Bohrmaschine dazu. Das Solistenquartett hatte im doppelten Sinn alle Hände voll zu tun, das Riesenorchester dagegen nicht, was zeigte: Da ist noch Luft nach oben. Interessant wäre, wenn Steen-Andersen seine fraglos faszinierenden Klang-, Rhythmus- und Loop-Kombinationen noch mehr auf den symphonischen Klangkörper übertragen würde. Trotzdem eine launige und gut gebaute Nummer.

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Zwischen trocken Brot und altbacken: Enttäuschungen

Als Kontrast gab's Stücke von Pascale Criton, die sich laut Programmheft von der "Ungewissheit und Unvorhersehbarkeit", die das Leben so spielt, inspirieren ließen – sich darin aber verirrten und in Modi längst vergangener Zeiten verweilten, das Sopransolo zerhackt, im doppelten Sinn nach Worten suchten, ein flimmerndes Flehen – naja. Auch George Lewis, der große amerikanische Pionier der computergenerierten Sounds und Experimentator im Bereich der KI, konnte mit seinem Doppelkonzert für Mensch und KI-Pianist nicht überzeugen. Roscoe Mitchell improvisierte am Sopransaxofon größtenteils in Free-Jazz-Manier als gäb's kein Morgen, die in Echtzeit analysierende KI antwortete allerdings mit einem knallharten und sägerauen Brett an Kaskaden und Überfrachtungen, ohne dass eine Entwicklung oder ein Konzert stattgefunden hätte: atonaler Brei, der gut 20 Minuten zu lang durchgezogen war.

Florentin Ginot spielt im Schlosspark bei den DMT 2024  | Bildquelle: SWR/Astrid Karger Florentin Ginot | Bildquelle: SWR/Astrid Karger Auch im Bereich der A-cappella-Stücke waren Anleihen aus der Küche brauchbar: Michael Finnissy steuerte bei der programmatisch ohnehin zähen Matinee zum Thema "Grenzerfahrungen" ein Stück auf einen Text des Barockdichters Andreas Gryphius bei – Zeilen, die sich wiederum mit dem Leid im Dreißigjährigen Krieg befassen. Ergebnis: staubtrockenes Brot als Melange zwischen Liturgie und Scéance. Da waren die Rahmenstücke von Claudia Jane Scroccaro und Frank Bedrossian nötig, um das zu verdauen. Dank fein beigemischter Elektronik und nuancierter Farbgebung innerhalb der Stimmgruppen, teilweise mit effektvollen Raumwanderungen, ein schöner Aperitif und Digestiv.

Nachts sind alle Kontrabässe schwarz

Zum Thema Raumwanderung hatte der Kontrabassist Florentin Ginot auch ein paar Takte beizusteuern. Bei seinen nächtlichen Konzerten im Schlosspark kamen alle Eulen auf ihre Kosten.
"Alle" meint auch alle, denn die Naturgeräusche, die sich in die Stücke mit aufwändiger Rundumbeschallung an den Bäumen mischten, waren so bunt und skurril, dass schnell nicht klar war, was echt, was vom Bass nachgeahmt und was elektronisch erzeugt war: abgedunkelte Gänse und sanft ächzende Baumwipfel, gerade noch hörbare Kühe und knarzende Stämme, huschende Hasen und sumpfig-saftendes Moor – ein Fest für die Neukalibrierung der Ohren. Ähnliches, nur im Inneren des Museum Art.Plus, zauberte Elsa Biston mit ihrer Klanginstallation "aussi fragile que possible" – ein Irrgarten aus Fäden und Tonabnehmern, gespickt mit Instrumenten und anderen Materialien, die Geräusche liefern. Das war an sich schon fein, weil jederzeit frei begehbar und durch das Berühren aktiv beinflussbar. Aber mit der dreimal am Tag verteilten Musikperformance noch spannender, weil die Instrumente eher perkussive Sounds lieferten, die man nicht erwartet hätte – die aber auch auf Lautsprecher im nächsten Raum wanderten, oder eine Vibration auslösten, die wiederum ein Korken am Cello tanzen ließ.

Orchesterpreis an Sara Glojnarić

Sara Glojnarić erhält den Orchesterpreis des SWR Symphonieorchester aus den Händen von Solo-Hornist Peter Bromig | Bildquelle: SWR/Ralf Brunner Sara Glojnarić erhält den Orchesterpreis des SWR Symphonieorchester aus den Händen von Solo-Hornist Peter Bromig | Bildquelle: SWR/Ralf Brunner Am Ende des Marathons, um wieder auf das Bild vom Anfang zurückzukommen, haben nochmal die Pacemaker Boden gut gemacht. Im Abschlusskonzert ging es rasant und wild los. Francisco Alvarado sinnierte über seine Kindheit, in der Kassettenrekorder eine wichtige Rolle spielten. "REW.PLAY.FFWD" ist ein fulminant orchestrierter, handwerklich toll gemachter Ritt mit Verbeugung vor Strawinsky bis zur Filmmusik, überwiegend tonal mit rhythmischen Zuckungen, angenehm subtil durchkreuzt durch elektronische Beimischung als Erinnerungsfetzen – man hätte bei dem Titel auch Anderes vermuten können. Noch eine Schippe draufgelegt hat dann Sara Glojnarić in ihrem Stück "DING, DONG, DARLING!" – ein technisch aberwitziges, trotz Elektronik vor allem symphonisches Feuerwerk als Feier der Queer Joy: einem Gefühl, einem Konzept, einer Haltung, die unsere Gegenwart mitbestimmt, vogelwild-schnatternd, überbordend-ratternd, vielstimmig, bunt, und mit einem ansteckend-lebensbejahenden Drive, der das SWR Symphonieorchester an die Stuhlkante drängte und das Publikum gänzlich von den Stühlen riss. Mit Rückenwind des anschließend verliehenen Orchesterpreises ist dieser Musik eine vielmalige Wiederholung bei anderen Top-Orchestern zu wünschen – und zwar im normalen Repertoire-Betrieb.

Chaya Czernowin malt die Dämmerung in Aquarell

Der Zieleinlauf war allerdings wieder einer Meisterin der Stille und des sanften Atems vorbehalten, oder, um im Duktus zu bleiben: Ruhepuls bei etwa 45. Chaya Czernowin lotete in ihrem neuesten Werk mit dem Titel "Unforseen dusk: bones into wings" eine Dämmerungslandschaft aus, vermischt mit Natur- und anderen Lauten. Die sechs verstärkten Solostimmen seufzen und zischen sich wie in Zeitlupe hinter fahl schimmernden Schatten hervor, großartig geschrieben, aber doch sehr verschwommen-flächig, nur bedingt sinnlich, es ist wie die diametrale Ausrichtung zu Glojnarić. So waren die diesjährigen Donaueschinger Musiktage einmal mehr ein Breitband der Ausdruckskraft, mit deutlich gesteigertem Ticketverkauf (20 Prozent mehr zum Vorjahr) und insgesamt einer Auslastung von über 90 Prozent auch auf dem richtigen Weg, sich im Hier und Jetzt zu verankern.

 Sendung: "Leporello" am 21.10.2024 ab 16:05 Uhr

Kommentare (1)

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Vier plus zwei ergibt?

Montag, 21.Oktober, 23:56 Uhr

T.R.

Sehr gut geschrieben

Ich bin mir ziemlich sicher, dass mir viele Stücke weniger gefallen hätten als dem Autor, wenn ich denn da gewesen wäre, aber ich muss zugeben, dass dieser Artikel interessant und nachvollziebar geschrieben wurde. Ich habe ihn also gerne gelesen.

Vom Niveau her kein Vergleich mit den Berichten von diesem Festival in den vergangenen Jahren.

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