Vor hundert Jahren, im Juli 1924 engagierte Fletcher Henderson einen beeindruckenden Musiker: Charlie Green. In Hendersons Orchester und an der Seite von Blues-Sängerinnen erwies er sich als der größte afroamerikanische Jazzposaunist seiner Zeit. Er machte die Zugposaune Mitte der 20er Jahre zu einem ausdrucksstarken Soloinstrument.
Bildquelle: Henderson
Die Zugposaune war in den Bands des frühen Jazz unentbehrlich, hatte aber fast nur Begleitaufgaben. Sie war harmonische Stütze, setzte rhythmische Akzente, übernahm gelegentlich Bassfunktionen und tat sich mit humoristischen Glissandi hervor. Sie bildete das Fundament für die führende Trompete und die bewegliche Klarinette. Ihr melodisches Potential zeigte sich vor allem in den Gegenstimmen zu den beiden hohen Stimmen. Insbesondere zwei Musiker befreiten Mitte der zwanziger Jahre die Posaune aus ihrer traditionellen Rolle und machten sie zur gleichwertigen Partnerin der anderen Soloinstrumente. Der weiße Miff Mole entwickelte elegante Beweglichkeit, Staccato-Läufe und ungewöhnliche Intervallsprünge. Der schwarze Big Charlie Green hingegen, der ein packendes Blues-Feeling besaß und vor Louis Armstrong Hendersons am meisten swingender Musiker war, arbeitete vor allem an der Expressivität des Sounds.
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Fletcher Henderson - Suger Foot Stomp - New York City, Mai 29 1925
Hendersons Kornettist Rex Stewart beschrieb den ehemaligen Karnevalsposaunisten aus Omaha, Nebraska, als "einen wunderbaren Instrumentalisten, der sein Horn perfekt beherrschte, und dessen Spiel von sehr lieblich bis hin zu einem schreienden, rauen Stil" reichte. Er sei der seltsamste Mensch gewesen, den er je getroffen habe und habe stets neben seinem Gin ein Schießeisen in seinem Posaunenkoffer herumgetragen, das er aber nie benutzt habe. Er besaß auch liebenswürdige Seiten, doch der massenhafte Konsum von Alkohol machte ihn zu einem gelegentlich boshaften Mitmusiker, mit dem man sich lieber nicht anlegte. Nach Coleman Hawkins, dem Vater des Tenorsaxophons im Jazz, war Green der zweite Solist von Rang bei Fletcher Henderson. Als einige Monate nach ihm Louis Armstrong zum Orchester stieß (vor dem Green in "Sugar Foot Stomp" von 1925 ein Solo spielt), leitete Henderson mit drei wegweisenden Solisten das Jazzorchester der Ära.
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Fletcher Henderson - The Gouge Of Armour Avenue - New York, 07.31.1924
Coleman Hawkins, so berichtet Rex Stewart, entschärfte manchmal Greens heftige Spielweise, indem er in Greens Hörweite eifersüchtig von seiner Frau sprach. Green, der selbst ein eifersüchtiger Ehemann war, bekam davon den Blues. "Wenn er sich aufregte, griff er zu seiner Ginflasche. Je länger der Abend dauerte, desto trauriger wurde Charlies Spiel. Doch er schien nie zu begreifen, dass Hawk es so geplant hatte." Das Solo in "The Gouge Of Armour Avenue", das Henderson am 31. Juli 1924 aufnahm, eine von Greens ersten Meisterleistungen, offenbart tieftraurige Blues-Stimmung, doch auch Kraft und Entschlossenheit. Es ist eines der ersten "hotten" Posaunensoli der Jazzgeschichte - hot im Sinne von leidenschaftlich, bewegt, feurig, voller emotionaler Intensität: ein wichtiger Begriff für den frühen Jazz. Damit beeinflusste Green seinen wesentlich älteren Kollegen Kid Ory, der sich in Armstrongs „The King Of The Zulus“ von 1926 von Green inspirieren ließ.
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The King of the Zulus
Als der jüngere Dickie Wells, später einer der größten Posaunisten des Swing, 1927 sein Aufnahmedebut gab, imitierte er in Lloyd Smith "Symphonic Scrontch" einfach Greens drei Jahre altes Solo.
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Symphonic Scronch
Nach seinem Weggang von Henderson 1929 verlor Green nicht zuletzt wegen seiner Trunksucht an Bedeutung. Größen wie Jimmy Harrison, der ihn bei Henderson entthront hatte, und Jack Teagarden trieben nun die Emanzipation der Posaune voran. Trotz Platten mit Bessie Smith und Louis Armstrong machte Charlie Green in den 30er Jahren kaum noch Aufnahmen, auch wenn er weiterhin mit namhaften Musikern zusammenarbeitete, etwa mit dem Schlagzeuger Chick Webb 1932/34. Sein früher Tod kam überraschend. Als er an einem kalten, verschneiten Abend nicht in seine Harlemer Wohnung konnte, soll Green auf der Türschwelle erfroren sein. Beweise dafür gibt es nicht. Ein 42jähriger Patient namens Charlie Green starb 1935 in einem New Yorker Krankenhaus an Tuberkulose. Vielleicht handelte es sich dabei um den Musiker. So oder so ein trauriges Ende, wie eines seiner Bluessoli.
Schon 1927 setzte Bessie Smith, die Kaiserin des Blues, Charlie Green ein Denkmal: Das Stück "Trombone Cholly" trägt als Titel den Spitznamen, den sich Green selbst gab. Darin heißt es: "Er heult und stöhnt, er grunzt und grölt, er brüllt wie eine Kuh! Niemand sonst kann sein Zeug machen, denn er bringt‘s ihnen nicht bei! Oh Cholly, blas das Ding, diese Zugposaune; bring sie zum Sprechen, bring sie zum Singen. Mein Gott, woher hast du diesen Ton? Wenn Gabriel erfährt, wie du Posaune blasen kannst, lässt er dich seine Band leiten, ich weiß es!"
20. Juni 2024: Eine Chronik des Jazz (44): ”Somebody Loves Me” – Aufnahmen von Juni und Juli 1924 Moderation: Benedikt Schregle. Manuskript und Auswahl: Marcus A. Woelfle