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Christian Thielemann über Bruckner - das große Interview "Ich schwitze viel weniger"

Zum Gespräch kommt er im schwarzen Polohemd mit Wagner-Konterfei, umrahmt von der Aufschrift "Bayreuther Festspielorchester – 1. Violine". Kein Zweifel: Thielemann ist Wagner-Fan. Anton Bruckner war auch einer. Nun erklärt der Dirigent, was es bedeutet, Bruckner zu dirigieren.

Bildquelle: picture alliance/dpa | Sebastian Kahnert

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Christian Thielemann erklärt am Flügel Bruckners Symphonie Nr. 8 mit zahlreichen eingestreuten Musikbeispielen

BR-KLASSIK: Herr Thielemann, kann man zu jung sein, um Bruckner zu dirigieren?

Christian Thielemann: Christian Thielemann: Ja. Aber so, wie jeder Pianist früh an Beethovens letzte Klaviersonate ranmuss, muss man das auch mal irgendwo früh dirigiert haben, um sich die Hörner abzustoßen. Auch um die ganzen Fehler zu machen, die man da halt macht. Also möglichst eben nicht da, wo gleich ein sehr fachkundiges Publikum sitzt. Ich habe da Glück gehabt. Ich glaube, meine erste Bruckner-Symphonie habe ich in Turin dirigiert, die Vierte.

BR-KLASSIK: Wie war das?  

Christian Thielemann: Merkwürdig. Ich hatte mich sehr darauf gefreut und stellte fest, dass ich eigentlich alle Fehler machte, die ich dann später auch beim "Parsifal" gemacht habe. Ich war nämlich schlichtweg zu langsam, weil ich von meiner eigenen Ergriffenheit zu ergriffen war. Sie müssen im Bruckner den Puls entdecken – was gar nicht leicht ist, denn er schreibt ja überwiegend langsame Musik. Also es war das Langsamkeitsproblem, an dem ich am Anfang zu knapsen hatte.

Ich war von meiner eigenen Ergriffenheit zu ergriffen.
Christian Thielemann

BR-KLASSIK: Was hat der jetzige Thielemann dem jungen Thielemann voraus?

Christian Thielemann: Er weiß, dass das alles einen Puls hat. Man verliert sonst einfach das innere Momentum. Was Bruckner, je länger er komponiert hat, unglaublich gut hinbekommen hat, ist, dass er die gesamte Architektur von vier Sätzen gut überschaut hat. Dann überlegt man sich, wenn man das drei oder zehn Mal dirigiert hat: Könnte es sein, dass ich zu früh das Fortissimo ausreize? Wobei Sie natürlich nichts unter Wert verkaufen dürfen. Ich persönlich habe das durch Wagner besser gelernt. Vor allem, wenn Sie den "Ring" dirigieren. Ich denke immer ganz am Anfang, bevor das "Rheinhold" losgeht, an den Schluss der "Götterdämmerung". Und davor der größte Moment im ganzen Ring ist wahrscheinlich der Trauermarsch nach Siegfrieds Tod. 

Christian Thielemann dirigiert Bruckners Fünfte beim BRSO

Das Konzert mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Leitung von Christian Thielemann können Sie hier anschauen.

BR-KLASSIK: Man blickt sozusagen aus dem Weltall auf Deutschland und schaut: Wo sind die höchsten Gipfel?

Christian Thielemann: Ganz genau. So eine Bruckner-Symphonie ist wie der "Ring" in anderthalb Stunden. Und das habe ich besser und natürlicher hinbekommen, nachdem ich einen "Tristan" oder "Ring" disponiert hatte. Beim "Tristan"-Vorspiel musst du einmal von null auf 380. Da führt nichts dran vorbei. Wenn Sie das Vorspiel nicht bis kurz vorm Herzinfarkt dirigieren, ist es einfach verdorben. Aber dann muss man runter, um das Pulver nicht zu früh zu verschießen. Das Vorspiel steht für sich alleine. Das ist bei Bruckner gottlob nicht der Fall, weil so eine Symphonie schlichtweg kein Vorspiel hat. Aber ich darf eben auf keinen Fall zu früh die Fortissimi verschießen. Und dann habe ich mir auch angeguckt auf YouTube: Wie hat der Karajan die Stelle geschlagen? Und ich habe Günter Wand öfter gehört in Berlin und mir genau angeschaut: Den Anfang der Achten dirigiert er in Halben. Hier geht er in Viertel. Warum tut er das? Warum tut er das? Leider konnte ich nicht fragen, er starb dann ja auch. Also ich habe mir das teilweise abgeguckt und manche Dinge auf mich und auf meine Arme adaptiert.

BR-KLASSIK: Jeder Körper ist ja auch anders…

Christian Thielemann: Was ich Ihnen gerade erzählt habe, klingt, als ob man jeden Takt abschätzen würde. Genau dieser Eindruck darf natürlich nicht entstehen. Ich muss es ja am Abend so servieren, als wäre das spontan. Ich fange ja auch nicht jeden Abend mit dem exakt gleichen Tempo an und denke mir: Oh, da darf ich nicht so viel! Und da darf ich auch nicht so viel! Dann würden Sie als Zuhörer sagen: Irgendwie war das alles langweilig, alles abgezirkelt. Und Sie hätten Recht. Das heißt, ich muss das auch noch mit einer Art von Nonchalance und Leichtigkeit servieren.

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Bruckner 11 – Christian Thielemann & Wiener Philharmoniker | Bildquelle: CMajorEntertainment (via YouTube)

Bruckner 11 – Christian Thielemann & Wiener Philharmoniker

BR-KLASSIK: Also muss man sich von der Musik auch ein Stück weit neu überwältigen lassen, als würde man nur im Moment sein und alles zum ersten Mal erleben. Wie kriegt man diesen Wechsel hin zwischen Frosch- und Vogelperspektive?

Christian Thielemann: Ich muss sagen, das ist etwas, was mir immer noch Schwierigkeiten bereitet.

BR-KLASSIK: Sie lassen sich zu sehr mitreißen?

Christian Thielemann: Immer zu sehr. Herz und Verstand! Karajan hat gesagt: Man muss entspannt Spannung vermitteln. Das ist auch so eine Sache. Wie soll das gehen? Also was jetzt?

BR-KLASSIK: Klingt paradox. 

Christian Thielemann: Ja. Und das ist genauso paradox. Natürlich muss ich einen Plan haben. Das kann aber keine mathematische Gleichung sein, ein Beweis, der unweigerlich rauskommt. Das wollen Sie auch nicht hören. Dann werden Sie nämlich zu Recht sagen. Und wo ist die Atmosphäre?

BR-KLASSIK: Richard Strauss hat gesagt: "Du sollst beim Dirigieren nicht schwitzen, nur die Zuhörer sollen warm werden."

Christian Thielemann: Ich sag Ihnen was: Bei meiner letzten Bruckner Acht, die jetzt gerade wenige Wochen zurückliegt, habe ich immer weniger geschwitzt. Ich bin ein Schwitzer leider, ärgerlicherweise. Aber jetzt nicht mehr so.

BR-KLASSIK: Bewegen Sie sich weniger als früher?

Christian Thielemann: Viel weniger, viel weniger! Mit das schönste Kompliment, das Sie von einem Orchester bekommen können, ist, wenn die in der Probe sagen: Wir sehen die drei nicht mehr! (lacht) Das meint natürlich nicht, dass man undeutlich schlagen soll. Wissen Sie, Sie kommen nach einer Weile bei dieser Musik in Bereiche, die ahnen Sie nicht, wenn Sie’s nicht erfahren haben.

Sie machen nichts. Und es ist da.
Christian Thielemann

BR-KLASSIK: Nämlich?

Christian Thielemann: Dass Dinge ganz selbstverständlich kommen, für die Sie immer gekämpft haben. Und auf einmal sind sie da. Zum Beispiel diese Qualität, wie ein Hauch mit dreieinhalb Bogenhaaren zu spielen und trotzdem Substanz zu geben. Ich kann es nicht beschreiben. Mit einem Mal dirigieren Sie das und machen an sich gar nichts. Und es ist da. Und man fragt: Warum spielt Ihr das jetzt so? Da sagen die mir hinterher: "Sie haben das ausgestrahlt." Da sag ich: "Nee, ihr habt das so geliefert! Ich weiß nicht, was heute gewesen ist." Es weiß dann keiner mehr.

B R-KLASSIK: Das heißt, es ist eigentlich ein Prozess hin zum Minimalismus: Am Anfang fuchtelt man, man schwitzt wie ein Wilder und kriegt genau das nicht, was man erreichen möchte. Und irgendwann macht man viel weniger. Und plötzlich blüht es?

Christian Thielemann: Natürlich. Und deswegen war Ihre Anfangsfrage richtig: Man muss durch diese Täler durchgehen. Das ist jetzt kein Gespräch, das für Dirigentenschüler gut wäre. Ich kann ja nicht zu jungen, 22-jährigen, angehenden Dirigenten sagen: "Kinder, alles viel zu viel, macht weniger!" Dann werden das ja totale Langweiler. Man muss denen sagen: "Ihr müsst euch total auspowern. Müsst alle Fehler machen, doppelt so schnell, doppelt so langsam. Und dann irgendwann für Euch rausfinden, wie das ein eigenes Gesicht bekommt."

BR-KLASSIK: Aber ehrlich gesagt, das ist nicht gerade das, was die meisten Leute mit Thielemann verbinden: Nichts zu machen, wenig zu machen.

Christian Thielemann: Ich entwickle mich ja auch. Ich habe mich sehr entwickelt in den letzten Jahren. Ich hab viel darüber nachgedacht. Es gibt andere Stücke, da mache ich mehr. Man muss ja auch stilistisch unterscheiden. Die Fünfte von Beethoven – das ist ein exaltiertes Stück, das können Sie mit der Achten Bruckner gar nicht vergleichen. Ich erlaube mir das, bei einer Fünften Beethoven sehr viel exaltierter zu sein als bei einer Bruckner-Symphonie. Ich mache das auch bewusst, weil ich finde, dass Beethovens Fünfte in einzigartiger Weise einen Schritt in die Zukunft gemacht hat. Diese Musik erzeugt Hysterie. Bei Bruckner haben Sie das natürlich nicht in gleicher Weise. Aber auch bei Bruckner gibt es so viele Stellen, da geht mir auch jetzt kalt den Rücken runter, wenn ich nur dran denke. Und das leben Sie natürlich mit. Auch wenn ich davorstehe und mir sage: "Nein, du musst klein dirigieren!" Aber das geht mir so nahe. Da bin ich hinterher fix und fertig.

Die böse Stimme sagt: Du wirst den Sechsachteltakt versemmeln!
Christian Thielemann

BR-KLASSIK: Wie lange wirkt das nach?

Christian Thielemann: Lange. Manchmal ist es so, dass ich nicht schlafen kann. Nach einem "Ring" bin ich womöglich total müde. Nach der "Götterdämmerung" sind Sie so ausgelaugt, dass Sie dann irgendwann einschlafen. Der Bruckner ist ja eigentlich kurz. Aber ich muss in 60 oder 80 Minuten einmal den "Ring" durchleben. Das ist eine schwere Aufgabe. Da müssen Sie total ausgeruht sein. Wenn ich gut ausgeruht bin, macht es mir auch nicht soviel. Das klingt jetzt nach einer irren Mühe und hinterher gleich der Herzinfarkt. Nö, das ist nicht so. Aber ich weiß, was ich dafür tun muss. Ich weiß, dass ich gut geschlafen haben muss, dass ich möglichst emotional ausgeglichen da hingehe. Dann bin ich auch nicht so nervös.

Die Nervosität kommt ja manchmal und Sie wissen gar nicht warum. Dass die Hände kalt sind, alles kalt bis zu den Füßen. Und man weiß nicht, was heute Abend los ist. Und dann kommt wieder eine ganz wichtige Premiere mit Fernsehen und Live-Aufnahmen. Und im Nachhinein muss ich sagen: Ich war eigentlich nicht so nervös. Und ich weiß nicht warum. Und bei der dritten Aufführung denke ich, ich zittere und ich verschlage mich. Die böse Stimme sagt: Du wirst den Sechsachteltakt versemmeln am Anfang. Und dann gehst du runter zur ich weiß nicht wievielten Tristan-Aufführung in Bayreuth und sagst: Ich bin so nervös – ich möchte am liebsten gleich wieder weggehen. Und ich kann es Ihnen nicht erklären, woran das liegt.

BR-KLASSIK: Gibt's denn auch eine positive Nervosität? Die man umdrehen kann, indem man sagt: „So, jetzt zeig ich‘s euch!“

Christian Thielemann: Ja, unbedingt. Wissen Sie, schlagtechnisch ist Bruckner nicht so schwer. Das ist jetzt nicht wie bei Strawinskys "Sacre", wo Sie sich so verschlagen können, dass alle auseinanderfallen, Taktwechsel vergessen – alles aus. Oder wenn Sie bei Mahler vergessen, ob es drei Halbe oder zwei Halbe sind. Das ist schlimm. Bei Bruckner gibt es drei, vier Übergänge, die ausgesprochen schwierig sind. Aber das Schlimme bei solchen Stücken, die so linear sind, ist die Grundstimmung, die Sie übertragen müssen. Was der Wand unvergleichlich konnte. Der hat sich da vorne hingestellt, mit diesen doch ziemlich großen Bewegungen. Und der hatte die Stimmung, wenn Sie den beobachten mit dem NDR Symphonieorchester und der wird von vorne gezeigt: Ich sehe, der ist voll drin.

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Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 8 mit Günter Wand (2000) | NDR Elbphilharmonie Orchester | Bildquelle: NDR Klassik (via YouTube)

Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 8 mit Günter Wand (2000) | NDR Elbphilharmonie Orchester

Bei Karajan auch. In der Berliner Philharmonie sitze ich nicht gern auf dem Podium, weil das akustisch doof ist. Aber ich kann mich an drei oder vier Konzerte erinnern, wo ich mit Absicht mich aufs Podium gesetzt habe, nur um ihn zu sehen. Und habe eigentlich festgestellt: Es gab nicht viel zu sehen. Aber er war da. Ja, es waren schöne Bewegungen und es sah gut aus, aber das war gar nicht wichtig. Es war einfach nur wichtig, dass er da war und dieses Orchester das herausgesogen hat. Und es schien: Das ist leicht. Das kann ja nicht schwer sein, denn er macht ja nicht viel und die spielen ja so schön. Dann machen Sie es selber, sind zu langsam und sagen: Oh Gott, was habe ich da nur verbockt? Ja, und durch diese Täler müssen Sie eben gehen. Und deswegen ist es so interessant, wenn Sie sich an so einem Stück abarbeiten.

Dieses Interview beruht auf einer Sendung, in der Christian Thielemann Bruckners 8. Symphonie am Flügel mit zahlreichen Musikbeispielen erklärt.

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