Ein Festival mit besonders viel Frauen-Power und einer Stilmischung, die den Jazz beispielhaft in Richtung Folk und Kammermusik öffnete: "Sparks & Visions" im Theater Regensburg. Vom 19. bis zum 21. Januar fand es statt. Es ist in seiner Programmgestaltung das weltoffenste Jazzfestival Bayerns. BR-KLASSIK sendet am 3. Februar vier Radiostunden davon.
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So bunt ist ein Jazzfestival selten, vor allem dann, wenn es sich auf acht Einzelkonzerte in nur drei Tagen beschränken muss. Die zweite Ausgabe von "Sparks & Visions" im Theater Regensburg schaffte das Kunststück und bildete damit auch wichtige Trends ab: Die Hälfte der Auftritte waren Konzerte von Frauen oder aber von Ensembles, die von Frauen geleitet wurden.
Und das Wort Jazz wurde hier so weltoffen verwendet wie nur selten. Bei "Ruins and Remains" des Pianisten Wolfert Brederode war ein klassisches Streichquartett mit von der Partie, die estnische Pianistin und Sängerin Kadri Voorand verband Jazz-, Pop- und Folk-Elemente mit Improvisationskünsten, die sie einst von ihrer Mutter, einer estnischen Volksmusikerin, gelernt hatte. Die große englische Jazz-Vokalistin Norma Winstone sang im Duo mit Pianist Kit Downes eigene Stücke und anderes so zart, dass das Gastspiel stellenweise wie ein klassischer Liederabend wirkte – nur eben einer mit Improvisationsteilen und Songs aus dem Jazz- und Folkrepertoire. Am nächsten Abend dann Kontrastprogramm, ebenfalls aus England: New London Jazz mit der Band des Pianisten Alfa Sekitoleko, genannt Alfa Mist, der sich unter anderem mit einem Stück vor dem amerikanischen Jazztrompeter Freddie Hubbard verbeugte.
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So wurden die drei Tage im klassizistischen 3-Ränge-Theater (mit 520 Plätzen) zu einem klangprächtigen Vorbild für eine möglichst vielseitige Gesellschaft. Es ging in keinem einzigen der Konzerte um – im Jazz sonst sehr beliebten – Wettstreit, sondern alle Auftritte waren kleine Kunstwerke der Verschmelzung: von Stilen, von individuellen Tonsprachen. Die Programmgestalterin, die Regensburger Künstleragentin Anastasia Wolkenstein, sprach davon, dass sie "einen Raum schaffen" wolle, "wo Menschen zusammenkommen und eine gute Zeit haben und gestärkt und inspiriert und resilienter wieder rausgehen". Besonders wichtig seien ihr dabei "Diversität auf der Bühne und im Publikum". Das ist ein langer und komplexer Weg; gelungen ist der Veranstalterin auf jeden Fall ein Programm, das ungemein fein und nuancenreich mindestens zu musikalischer Toleranz einlud.
Konzertabend am Samstag, 3. Februar 2024, 18.05 Uhr bis 22 Uhr.
Bildquelle: © Ssirus W. Pakzad Stilistische Grenzmauern im Kopf waren für die drei Konzerttage eher hinderlich. "Elektro-Folk", sagte ein Besucher nach dem Auftakt ins BR-Pausenmikrofon. Damit gemeint war die Musik der in Deutschland lebenden und aus der Ukraine stammenden Sängerin Ganna Gryniva. Vom alten Erntelied bis zum Tanzlied, das den längsten Tag des Jahres feiert, steckte die Musikerin traditionelle Melodien und Texte in ein Soundgewand aus vervielfältigten Gesangsstimmen, elektronischen Zutaten und vorproduzierter Percussion. Ein spannendes Geheimnis dahinter: Die Künstlerin improvisiert in diesem Programm auch viel, sie ruft nicht nur Vorgedachtes ab – und ist damit ganz nah am Jazz. Gleich darauf folgte die Band des dänischen Gitarristen Teis Semey, die mit harten Gitarrenattacken und doppelter Saxophonwucht eine rau-wetterleuchtende Energie entfaltet. "Mean Mean Machine" heißt eines der Alben Semeys – und die gemeinte Maschine sei die, der wir alle angehören und die uns unfrei mache. Semey dazu im Interview: "Ich habe viel Zeit damit verbracht, über Autoritäten und Institutionen nachzudenken und darüber, wie sie unser Leben beeinflussen. (…) Ich baue in meine Titel kleine Rätsel ein, die auf meine Weltsicht hinweisen, aber ich will sie auch niemandem aufdrängen."
Beim Trio des norwegischen Pianisten Tord Gustavsen tauchte auch ein Stück von Johann Sebastian Bach auf: die Melodie der Choralkantate "Christ lag in Todes Banden". Der ungemein eingängige Jazz von Gustavsens Trio (mit Kontrabass und Schlagzeug) hat etwas stark Spirituelles, nicht zuletzt auch durch viele Gospel-Einflüsse. Gustavsen sagt, das Publikum müsse das aber nicht auf die gleiche Weise teilen: "Das ist ein Trio aus einem Agnostiker, einem Atheisten und einem liberalen Christen – und das geht wirklich gut zusammen."
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Im Konzert der Vibraphonistin Evi Filippou mit dem Bassisten Robert Lucaciu ging es um mehr als nur stilistische Grenzmauern. Das Konzert fand parallel zur Demonstration gegen Rechtsextremismus statt. In seiner Ansage zu dem hinreißenden Solostück "Bring me home" sagte Lucaciu: "Ich hab gehört, heute gibt es auch eine große Demo hier in Regensburg. Ich finde es super, dass es die gibt. Der Anlass ist natürlich traurig, aber es gibt immer wieder Anlässe, sich zu politisieren und vielleicht auch selber darüber nachzudenken, wo der eigene private Raum aufhört und wo es sich vielleicht lohnt, auch Fürsprecherin und Fürsprecher zu werden für eine Sache. Und nur weil am extremen Rand etwas passiert, heißt das nicht, dass in der Mitte der Gesellschaft nicht auch bestimmte Ressentiments und Vorurteile vorhanden sind und wir bei uns mit unseren Privilegien anfangen dürfen. Das ist eine Einladung – auch für mich selbst." Das Konzert von Evi Filippou und Robert Lucaciu spannte einen Bogen von zarten und manchmal sehr komplexen Eigenkompositionen hin zu dem Stück "Feed the Fire", das die große amerikanische Jazzpianistin Geri Allen schrieb, eine der international herausragenden Musikerinnen der letzten Jahrzehnte.
Vier Stunden sendet BR-KLASSIK am 3. Februar von diesem Festival – mit einer musikalischen Zusammenschau aus allen Konzerten und mit Statements aus Interviews mit Akteur:innen aller Ensembles. Die erste Stunde – am Sendeplatz der Sendung "Jazz und mehr" – wird Schlaglichter auf völlig unterschiedliche Momente werfen; danach werden längere Passagen aus den Aufnahmen den Hörer:innen erlauben, sich in die Stimmung des jeweiligen Konzertes hinein zu versenken.
Für die Bildergalerie, die Sie auf dieser Seite sehen können, haben uns zwei sehr renommierte Fotografen ihre Bilder zur Verfügung gestellt. Der eine ist mit Ssirus W. Pakzad ein langjähriger Mitarbeiter der BR-KLASSIK-Jazzredaktion. Er hat seit den 1980er Jahren nicht nur Jazzgrößen, sondern auch Stars des Pop und Soul fotografiert, und dessen Bilder sind auf vielen Plattenhüllen und in Lexika erschienen. Der andere ist der Münchner Fotograf Robert Fischer, der sich vornehmlich der Konzert- und Porträtfotografie widmet. Er wurde zuletzt unter anderem 2022 mit einem Tokyo International Foto Award sowie 2023 mit zwei Honorable Mentions bei der 20. Ausgabe der in Los Angeles und Hong Kong ansässigen International Photo Awards (IPA) ausgezeichnet.
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