Am Dienstag feiert "Pelléas et Mélisande" Premiere bei den Münchner Opernfestspielen. Jahrelang hat Christian Gerhaher in Debussys Oper die Partie des Pelléas gesungen. Jetzt übernimmt der Bariton die Rolle des Golaud und wechselt damit sogar das Stimmfach. Gerhaher reizt diese cholerischen Figur. Im BR-KLASSIK-Interview betont er, für ihn sei die Partie stimmlich perfekt.
Bildquelle: Gregor Hohenberg / Sony Classical
BR-KLASSIK: Herr Gerhaher, "Pelléas et Mélisande" basiert auf dem gleichnamigen Theaterstück von Maurice Maeterlinck, das in seiner Rätselhaftigkeit wohl nicht unbedingt als effektvolles Opernlibretto galt. Was hat Debussy an diesem Drama des Unausgesprochenen so fasziniert?
Christian Gerhaher: Zwei Faktoren machen das Buch von Maeterlinck meiner Ansicht nach zur idealen Grundlage einer Literaturoper: Zum einen finde ich, dass es durchaus ein tragfähiges Handlungsgerüst für eine veritable Oper bietet. Es geht um zwei Brüder, die in schwierigen dynastischen Verhältnissen stehen: Der Vater des Thronfolgers Golaud ist gestorben, der Bruder hat einen anderen Vater, nämlich den Onkel von Golaud. Und dadurch kommt es zu Verwicklungen, die ein bisschen an Hamlet denken lassen. Wenn der alte König Arkel abtreten sollte, kann es zu Problemen kommen. Dieser Konflikt wird noch verschärft durch das zentrale Eifersuchtsdrama: Golaud heiratet Mélisande, und in diese Frau verliebt sich sein Halbbruder Pelléas. Daraus resultieren der Eifersuchtsmord und der Tod von Mélisande. Insofern ist es eine echte Oper mit echter Dramatik ohne die Blutleere, die ihr oft nachgesagt wird. Es gibt gerade für Golaud viele hochdramatische Szenen, etwa wenn er Mélisande an den Haaren zerrt oder den kleinen Yniold dazu zwingt, für ihn zu spionieren.
Es gibt für Golaud viele hochdramatische Szenen.
Christian Gerhaher singt in der Münchner Neuinszenierung von "Pelléas et Mélisande" den Golaud. Hier mit Sabine Devieilhe (Mélisande). | Bildquelle: Wilfried Hösl Der zweite Punkt, der für Debussy sicher hochinspirierend war, ist die Sprache Maeterlincks. Man rechnet ihn zum symbolistischen Theater. Derart sich widersprechende Sätze wie die von Mélisande: "Je suis heureuse, mais je suis triste", also: "Ich bin glücklich, aber ich bin traurig" im selben Atemzug, sind durchaus publikumswirksam. Ich glaube aber, dass sie mehr Effekt als Substanz haben. Sie wurden von Maeterlinck sehr gezielt eingesetzt. Dennoch hat diese Sprache in ihrer scheinbaren Unentschiedenheit ein lyrisches Potential, gerade weil sich die Handlung nicht vollkommen entschlüsseln lässt. Genau das kennen wir vom Kunstlied: Hier werden klanglich Situationen geschaffen, die nicht ganz eindeutig in ihrer Bedeutung sind. So sehe ich das bei dieser Oper auch. Allerdings glaube ich eher, dass es ein Kunstgriff ist. Das Dominierende für mich ist das Drama – und auch seine dynamischen Ausbrüche und insofern die Einordenbarkeit.
Die Bayerische Staatsoper bringt Claude Debussys Oper "Pelléas et Mélisande" im Rahmen der Münchner Opernfestspiele auf die Bühne. Premiere ist am 9. Juli im Münchner Prinzregententheater. BR-KLASSIK überträgt ab 19 Uhr live im Radio.
BR-KLASSIK: Debussy hat mal geschrieben: "In der Oper wird zu viel gesungen." Tatsächlich wird bei ihm eher deklamiert, es gibt weder Arien noch ein zentrales Liebesduett. Wie geht es Ihnen mit diesem modernen "recitar cantando"? Ist dabei Ihre Erfahrung mit der Gattung Lied hilfreich?
Christian Gerhaher: Ja und nein. Diese 130 Seiten, die allein die Rolle Golauds ausmachen, sind durchgehend rezitativhaft ohne ein einziges Melisma. Es gibt keine Überbindungen, sondern jede Silbe ist auf eine Note gesungen und das in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit zum Teil, d.h. es ist eine unglaubliche Textmenge hier zu bewältigen, anders als beim Lied. Mir fällt auf, dass die französische Sprache in ihrer Deklamation anders gehandhabt wird von Debussy, als wir das beispielsweise von Schumann kennen, von seinen Liedern oder seiner Oper "Genoveva". Bei Schumann ist die Deklamation sehr kleinteilig, wahnsinnig viel Text in kurzer Zeit ist zu bewältigen, aber bei ihm ist es möglich, die Sprache im Sinne des gesprochenen Duktus auf die Musik zu übertragen.
Man muss diese Oper gut kennen, um sie zu lieben.
Die Familienkonstellation in der Oper "Pelléas et Mélisande" ist durchaus kompliziert. | Bildquelle: Wilfried Hösl Wir sind es gewohnt – und es ist fast ein Defizit, wenn man es nicht tut –, die Sprachschwerpunkte auch gegen die musikalischen Schwerpunkte zu setzen. Bei der französischen Sprache, vor allem bei Debussy, ist das weniger der Fall. Die gesprochene Sprache hat andere Schwerpunkte als die gesungene Sprache, und es ist nicht "lege artis", diese zu sprechenden Schwerpunkte auf die Musik zu übertragen, also die Musik zu konterkarieren. Das ist etwas, was die Verständlichkeit nicht unbedingt befördert. Es kann zum Eindruck des Monotonen führen, der "Pélleas et Mélisande" oft nachgesagt wird. Man muss diese Oper gut kennen, um sie wirklich zu lieben.
BR-KLASSIK: Es ist ja eine sonderbare Familie, die da in vier Generationen auf ihrem düsteren Schloss sitzt. Diese "Königs" kümmern sich nur um sich selbst, jedenfalls nicht um ihre Untertanen, die offenbar an einer Hungersnot leiden. Ist da was faul im Staate Allemonde?
Christian Gerhaher: Das würde ich genauso sehen. Was wir allgemein unter Familie verstehen – Menschen, die sich umeinander kümmern und aneinander interessiert sind – wird hier dem alles beherrschenden Gebot des dynastischen Erhalts geopfert. Das birgt viel Grausamkeit und Zynismus. Etwa wenn Golaud sich über Mélisandes Gefühle lustig macht: "Ach, nur weil du kein Licht hier siehst, bist Du traurig?" Natürlich ist jeder Mensch traurig, wenn er nie die Sonne sieht. Golauds Spott darüber ist Teil seines grausamen Charakters. Die Hungersnotproblematik taucht tatsächlich zweimal auf: einmal in der Grotte, wo auf einmal ganz mystisch und erschütternd drei Männer an der Seite sitzen, das ist für mich fast der stärkste Moment in der ganzen Oper, musikalisch und ästhetisch!
Golaud ist eifersüchtig auf seinen Halbbruder Pelléas (Ben Bliss), der sich in seine Frau Mélisande verliebt. | Bildquelle: Wilfried Hösl Klanglich wird auf diese Menschen nicht eingegangen – einzig Pelléas mit seiner etwas sonnigeren Gemütsstruktur bemerkt sie, aber auch nur in einem ästhetisierenden Sinn. Noch einmal wird das Thema am Anfang jener Szene erwähnt, in der Golaud seine Frau an den Haaren herumschleifen wird. Hier spricht er mit seinem Großvater über diese Hungersnot, aber nur als wahrscheinliche Ursache dafür, dass diese Leute reihenweise sterben. Es ist ein absolut grausamer und abgehobener Familienzusammenhalt, der eigentlich um nichts mehr geht als um Kontinuität. Und dieser Kontinuität opfert man alles, opfert man auch die Kritik an der Grausamkeit Golauds.
BR-KLASSIK: Herr Gerhaher, Sie sind bekanntermaßen ein Bariton und haben viele Jahre lang den Pelléas gesungen. In der aktuellen Münchner Produktion wird diese Partie vom amerikanischen Tenor Ben Bliss übernommen, während Sie erstmals zur Rolle Golauds wechseln. Wie geht es Ihnen mit diesem Rollentausch?
Christian Gerhaher: Der Pelléas, den ich früher viel gesungen habe, ist eine Rolle für "Bariton Martin" (frz. Bezeichnung für einen tenoral gefärbten Bariton, nach dem Sänger Jean-Blaise Martin, Anm. der Red.) oder eine Tenorrolle für einen tiefen Tenor. Das ist so ein Zwischenfach, das es im Französischen gibt. Ich muss sagen, ich habe diese Rolle wahnsinnig gerne gesungen, aber es war schon schwierig in der Höhe.
Ich entwickle mich in Richtung Bassbariton – und bin damit vollkommen zufrieden.
Es gibt Baritone, die das wirklich ohne jede Schwierigkeit können, aber die hohen As des Pelléas, das würde ich heute gar nicht mehr können und damals war es auch schon nicht ganz einfach. Es ist wohl ein normaler Prozess, dass man sich als alternder Sänger etwas nach unten entwickelt: Ich bin kein hoher Bariton mehr, es geht ein bisschen mehr in Richtung Bassbariton bei mir, und ich bin damit vollkommen zufrieden. Insofern ist die Rolle des Golaud für mich stimmlich eigentlich ideal.
BR-KLASSIK: Arkel sagt ja einmal zu Golaud: "Ihr wisst nicht, was die Seele ist." Ist das sein Problem, eine gewisse Unsensibilität oder Blindheit? Welcher Art ist überhaupt seine Beziehung zu Mélisande?
Christian Gerhaher fühlt sich stimmlich in der Rolle des Golaud sehr wohl. | Bildquelle: Wilfried Hösl Christian Gerhaher: Ich kann das nachvollziehen, dass man an der Liebesfähigkeit Golauds zweifelt. Er hat, so könnte man das heute wohl sagen, eine soziopathische Störung. Er hat sich nicht im Griff, er ist ein entsetzlicher Choleriker, aber er bedauert das immer wieder. Er ist eine Person, die sich in dieser Oper nicht wirklich entwickeln kann. Aber er zeigt in diesen sechs größeren Szenen schon sehr viele Nuancen seiner problematischen Persönlichkeit in verschiedenen Situationen. Diese Reichhaltigkeit und Differenziertheit ohne eigentliche Entwicklung finde ich sehr interessant. Ich glaube, dass er zu Liebe fähig ist, und ich glaube auch, dass er im fünften Akt wirklich verzweifelt ist angesichts seiner sterbenden Frau. Ich glaube aber nicht, dass er je irgendeine Möglichkeit hatte, sich zu entwickeln. Vielleicht auch aus diesem dynastischen Problem heraus, dass man einfach sagte, der muss stark sein und deswegen darf man ihn nicht einbremsen.
Golaud kann sich in dieser Oper nicht entwickeln.
BR-KLASSIK: Debussy wollte sich klar gegen den "Wagnérisme" abgrenzen, obwohl oder gerade weil er selbst ein glühender Wagnerianer und Bayreuth-Pilger gewesen ist. Ist ihm das eigentlich gelungen in diesem Stück, oder ist "Pelléas et Mélisande" ein "französischer Tristan", wie oft behauptet wird?
Christian Gerhaher: Zunächst hört man im ersten Zwischenspiel sehr stark "Parsifal" heraus. Es ist fantastisch, wie kunstvoll Debussy dann überleitet in die zweite Szene. Dabei hat die Oper ja gar nichts von Bühnenweihfestspiel oder Oratorium. "Pelléas et Melisande" ist ein eindeutig illusionäres Bühnenwerk – genau wie "Tristan und Isolde". Da gibt es auch keinerlei Distanzierung von dem auf die Bühne gebrachten Inhalt und statt "französischer Tristan" könnte man auch "deutscher Pelléas" zu Wagners Oper sagen. Denn die Parallelität der Handlung ist schon sehr deutlich. Am Ende des Eifersuchtsdramas stirbt Isolde – man weiß nicht, an was, genau wie Mélisande. Nur, dass die Oper Wagners nochmal um gut die Hälfte länger ist.
Hier erfahren Sie alles über die diesjährigen Münchner Opernfestspiele und die Festspielpremiere "Le Grand Macabre" von György Ligeti. "Pelléas et Mélisande" ist die zweite Opernpremiere, die im Rahmen der Münchner Opernfestspiele 2024 stattfindet. Lesen Sie hier, was das Publikum bei "Pelléas et Mélisande" erwartet. Ein Interview mit der Regisseurin Jetske Mijnssen finden Sie hier.
BR-KLASSIK: Wie würden Sie in der aktuellen Produktion die Deutung der Regisseurin Jetske Mijnssen beschreiben: eher märchenhaft, eher psychoanalytisch? Wie hat Sie mit Ihnen diese doch sehr lebensfremden Figuren erarbeitet?
Eher Analyse als Märchen: die Inszenierung von Jetske Mijnssen | Bildquelle: Wilfried Hösl Christian Gerhaher: Das Setting erinnert an die Zeit der Entstehung, also ungefähr fin de siècle. Die Bühne ist klar erleuchtet, und somit ist es kein märchenhaftes, sondern eher in Richtung Analyse gehendes Regiewerk. Ich muss sagen, ich bin wahnsinnig glücklich, bei so einer Produktion dabei zu sein. Denn heutzutage – ohne dass ich immer bloß motzen möchte – wird doch sehr häufig irgendein ästhetisches oder politisches Thema einem präexistierenden Werk übergestülpt, um es in eine politisch und gesellschaftlich akzeptable Form zu bringen. Es ist wunderbar, dass ein so differenziertes Werk wie dieses wirklich ernst genommen wird, und man kann ganz einfach sagen: Es wurden die verschiedenen Beziehungen in dieser Oper, die Entwicklung des Dramas hin zum Mord und zum Tod Mélisandes so detailreich aus dem Werk heraus erarbeitet, wie es heutzutage leider sehr selten ist und von Regisseuren, wenn ich das mal so blöd sagen darf, oft gar nicht gekonnt wird.
Sendung: "Allegro" am 9. Juli 2024 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (1)
Dienstag, 09.Juli, 05:50 Uhr
Beate Schwärzler
Der cholerische Golaud
Darf man ihn dennoch trotzdem mögen dürfen ?
den Golaud ?