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Münchner Opernfestspiele 2024 Stadien der Moderne

Die Bayerische Staatsoper konzentriert sich mit ihren beiden Neuproduktionen am Saisonende auf Geniestreiche des 20. Jahrhunderts: Die Münchner Opernfestspiele verneigen sich vor Ligetis "Le Grand Macabre" und Debussys "Pelléas et Mélisande".

Das Münchner Nationaltheater | Bildquelle: picture-alliance/dpa

Bildquelle: picture-alliance/dpa

Ein Déja-Vu: Kent Nagano

Für die Münchner Erstaufführung von György Ligetis einziger Oper kehrt überraschend ein früherer Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper zurück an die Isar: der inzwischen 72-jährige Kent Nagano! Seine Affinität zur Moderne ist ein wichtiger Grund dafür. Auch szenisch liegt der Musiktheater-Markstein "Le Grand Macabre" in Händen eines alten Bekannten, des polnischen, schon vielfach am Haus beschäftigten Regisseurs Krzysztof Warlikowski.

"Le Grand Macabre": Orgie statt Apokalypse

Komponist György Ligeti | Bildquelle: H.J. Kropp György Ligeti komponierte die Oper "Le Grand Macabre". | Bildquelle: H.J. Kropp Der 2006 in Wien verstorbene Ungar rumänischer Herkunft György Ligeti gilt als Pionier der Nachkriegsavantgarde: Seine 1978 in Stockholm uraufgeführte Oper ist inspiriert vom Schauspiel "La balade du Grand Macabre" (1935). Ein Panoptikum des Lebens, prall-sinnlich, halb zum Lachen, halb zum Weinen – also tragikomisch. Den Text des flämischen Dichters Michel de Ghelderode hat der Komponist umformuliert, die Handlungsstruktur aber beibehalten. Der Tod höchstpersönlich verbirgt sich hinter dem "Großen Makabren" – oder doch nicht? Der Todesprophet namens Nekrotzar hat etwas von Mozarts geheimnisvollem Komtur in "Don Giovanni", mehr aber noch von einem Gaukler, Scharlatan, Clown. Das von ihm angekündigte Jüngste Gericht findet nicht statt. An seine Stelle tritt eine Sauforgie. Ghelderode/Ligeti stellen eine radikale Form schwarzen bzw. bösen Humors zur Debatte. Da sind lauter Fragen: Ist die Welt ohne Tod ein ewiges Fest, ein Triumph des Erotischen? Haben wir, sobald der Tod tot ist, die Hölle auf Erden? Gibt es hier also ein nihilistisches Ende?

György Ligeti sagt dazu: "Es ist die Angst vor dem Tod, die Apotheose der Angst und das Überwinden der Angst durch Komik, durch Humor, durch Groteske. Jede Figur scheitert, und jede Figur ist auf ihre Weise lächerlich. Aber diese Lächerlichkeit ist nicht eindeutig. Es kommt eine Art Mitgefühl mit ihnen auf."

Jede Figur ist auf ihre Weise lächerlich.
György Ligeti über 'Le Grand Macabre'

Ironie und Satire in Ligeti-Oper

Gute Unterhaltung bietet "Le Grand Macabre" allein wegen des völlig übertrieben gezeichneten Figurenkabinetts. Nach Art einer Karikatur oder eines Comicstrips. Manche Bühnensituation ist schlicht Klamauk. Alle scheinen verrückt, leben verantwortungslos, "verfressen, versoffen, verhurt". Die triebgesteuerte Conditio humana feiert die Gelüste des Lebens. Und doch: Was in dieser Oper auf den ersten Blick banal scheint, entpuppt sich als tief- oder wenigstens hintersinnig. Beim Liebespaar mit den bezeichnenden Namen Amanda/Amando fordert Ligeti einen Sopran für die Dame und einen Mezzosopran für den Herrn (Hosenrolle). Wie zum Beispiel Richard Strauss im "Rosenkavalier".

Anspielungen an Monteverdis "Orfeo"

Es ist ein weiter Radius der Anspielungen und Zitate, die "Le Grand Macabre" zum Hör-Abenteuer machen. Im Instrumentalvorspiel scheint Monteverdis "Orfeo"-Toccata durchzuschimmern. Die barocke Form der Passacaglia, bei der sich eine Tonfolge im Bass wiederholt, liegt dem Finale zugrunde. Ligeti hat auch die Verzierungskünste der italienischen Oper im Blick. Die Ästhetik der opera buffa eines Gioachino Rossini blitzt in überdrehten Ensembles auf. Da gibt es absurde Nonsens-Reimereien wie in "L’Italiana in Algeri / Die Italienerin in Algier". Sprachlich oft brutal, vulgär, wie heute in den Sozialen Medien.

"Le Grand Macabre", von Malern inspiriert

Vermutlich singulär in der Operngeschichte ist die Angabe zum Zeitpunkt der Handlung, spielt sie doch "im soundsovielten Jahrhundert". Zu den bildenden Künstlern, die "Le Grand Macabre" inspiriert haben, gehört vor allem Pieter Breughel d.Ä. (aber auch Hieronymus Bosch, Otto Dix und James Ensor). Beim Fürstentum Breughelland denken wir an ein Schlaraffenland als Wimmelbild. Ebenso kindlich wie kindisch geprägte Erlebnishorizonte zwischen Marionetten und Kasperltheater. Wichtiges Requisit ist ein Spielzeug- bzw. Schaukelpferd. Die humorige Figur des Totenwächters Piet vom Fass zitiert das existentiell gefärbte "Dies irae, dies illa". Auch Elemente der katholischen Messe werden parodiert. Offenbar ohne Vorbild ist die Kuckucksuhr, die am Ende zur Mitternacht schlägt!

Artifizielle Folklore bei Ligeti

Sonst hat auch die Mikropolyphonie der 1960er-Jahre ihre Spuren in der Partitur hinterlassen. Der Part des Nekrotzar (diesmal: der Bariton Michael Nagy!) ist zwischen Sprechen, Schreien, Singen angesiedelt, rhythmisch heikel. Vieles, das Ligeti genau notiert, wirkt spontan und improvisiert. Der Komponist intendiert auch "artifizielle Folklore". Eine kleine Streichergruppe steht farbenfrohen Bläsern gegenüber, vielfältiges Schlagwerk einer Fraktion von Tasteninstrumenten. Unter den Kuriosa sind Zeitungsseiten zur Geräuscherzeugung, Mundharmonika und Trillerpfeifen, Türklingeln und Autohupen – unterschiedlich gestimmt!

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LE GRAND MACABRE | Bildquelle: BayerischeStaatsoper (via YouTube)

LE GRAND MACABRE

Debussys "Pelléas et Melisande" bei den Münchner Opernfestspielen

Die zweite Neuproduktion der Münchner Opernfestspiele beschert Musiktheaterfans wieder einmal Claude Debussys "Pelléas et Mélisande" – zuletzt 2015 frisch einstudiert im Prinzregententheater. Das überaus diskrete Dreiecksdrama um ein weibliches Rätselwesen und zwei Halbbrüder. Erstmals kommt dafür die niederländische Regisseurin Jetske Mijnssen an die Isar, der Finne Hannu Lintu dirigiert (für Mirga Grazynite-Tyla, die vom Projekt abgesprungen ist). Die Besetzung weist viel Prominenz auf: Neben dem gebürtigen Straubinger Christian Gerhaher als Golaud ist die Französin Sabine Devieilhe als Mélisande zu erleben. Eher unbekannt hierzulande: der US-Amerikaner Ben Bliss als Pelléas.

Massenhaft Leitmotive

Komponist Claude Debussy | Bildquelle: picture-alliance / Mary Evans Picture Library Claude Debussy arbeitete zwölf Jahre lang an "Pelléas et Mélisande". | Bildquelle: picture-alliance / Mary Evans Picture Library Debussys ausgeprägter Sinn für eine schwebend durchhörbare, sinnlich-kühle Linienführung gehört zu den Markenzeichen dieses "Lyrischen Dramas". Da wehrt sich jemand gegen die traditionelle, nach Auflösung dissonanter Akkorde strebende Harmonik. Strukturell arbeitet Debussy mit personen- und objektbezogenen Leitmotiven: Es sind 13 an der Zahl. Das Motiv für Mélisande erklingt 74mal, für Golaud 59mal, für Pelléas 22mal. Keine Minute dieser Oper vergeht, ohne dass mindestens ein Leitmotiv erklingt. Und doch ist es keine Frage, dass Debussy auch und gerade der Gesangstext enorm wichtig ist. Manchmal verstummt die Musik sogar, um die gesungenen Worte so verständlich wie möglich zu machen. Ein symbolistisches Theaterstück von Maurice Maeterlinck liefert die Vorlage.

Claude Debussy erklärt: "Das 'Pelléas'-Drama, das trotz seiner traumhaften Atmosphäre bei weitem mehr Menschlichkeit enthält als all die so genannten 'lebensechten Stoffe', schien mir auf wunderbare Weise dem zu entsprechen, was ich wollte. Die Personen versuchen ganz natürlich zu singen und nicht in einem willkürlichen Tonfall, der aus veralteten Traditionen stammt. Vor allem habe ich den Charakter, das Leben meiner Personen respektiert. Ich wollte, dass sie sich – abgelöst von mir – aus sich selbst heraus ausdrücken. Ich habe sie in mir singen lassen. Ich habe versucht, auf sie zu hören und ihr getreuer Dolmetscher zu sein. Das ist alles."

Die Personen versuchen ganz natürlich zu singen und nicht in einem willkürlichen Tonfall.
Claude Debussy über 'Pelléas et Mélisande'

"Pelléas et Melisande": Libretto zuerst verspottet

Zwölf Jahre lang arbeitet der Komponist an "Pelléas et Mélisande". Die Vertonung dient einer Poesie des Enigmatischen, des Halb- oder sogar Unaussprechlichen. Damals ist Spiritismus in Mode, der Blick auf Traum und Traumata. Durch die Literatur und Malerei der Zeit geistert das Motiv naiver, unschuldig anmutender Mädchen: In das Klischee passt die Gestalt der Mélisande mit ihrem langen, wallenden Haar. Bei der öffentlichen Generalprobe am 27.Januar 1902 an der Pariser Opéra-Comique wird eine parodistische Inhaltsangabe verteilt, die sich über den Text lustig macht. Das Publikum spottet über das Libretto. In der Uraufführung drei Tage später bleibt ein vergleichbarer Skandal aus – die Leute im Saal verhalten sich reserviert, aber loyal. Viele Kritiker artikulieren Unverständnis über die Musik, aber das ändert sich allmählich. Im Jahr 1913 erlebt die zunächst so skeptisch betrachtete Partitur ihre 100. Vorstellung an der Opéra-Comique. Bis dahin hat sich "Pelléas et Mélisande" auch schon international in wichtigen Häusern durchgesetzt.

Münchner Opernfestspiele auf BR-KLASSIK

György Ligeti: "Le Grand Macabre" am 28. Juni 2024 ab 18:30 Uhr auf BR-KLASSIK

Claude Débussy: "Pelléas et Mélisande" am 9. Juli 2024 ab 19:00 Uhr auf BR-KLASSIK

Zweimal Puccini, zweimal Wagner

Und was haben die Münchner Opernfestspiele abseits dieser beiden Neuproduktionen sonst noch zu bieten? Die letzten zehn Tage konzentrieren sich auf zehn Aufführungen von vier Werken: "Parsifal" und "Tannhäuser", "Tosca" und "La fanciulla del West / Das Mädchen aus dem goldenen Westen". Also je zweimal Richard Wagner und Giacomo Puccini (zum 100.Todestag). Dabei darf sich das Publikum wieder fragen, in welcher Weise der Italiener den Liebesbegriff des Deutschen fortspinnt – zwischen Liebesproben, Liebesverboten, Liebesmahlen und Liebesnächten. Unter den Interpretinnen und Interpreten auf der Bühne ist der jüngeren Generation mit Andrè Schuen als Wolfram in "Tannhäuser" ebenso großes Interesse sicher wie etablierten Top-Stars: Jonas Kaufmann als Cavaradossi in "Tosca". Unter den Damen liegt ein Fokus auf der Norwegerin Lise Davidsen, die ihre erste Münchner Tosca und ihre erste Münchner Lisa in Tschaikowskys "Pique Dame" singt.

Liederabend, Ballett, Kammermusik

Sopranistin Asmik Grigorian | Bildquelle: © Algirdas Bakas Die Sängerin Asmik Grigorian gibt bei den Münchner Opernfestspielen einen Liederabend. | Bildquelle: © Algirdas Bakas Die Premierenbesetzung dieser Rolle, der litauische Megastar Asmik Grigorian, findet sich im Rahmen eines der sechs gewohnt prominent besetzten Liederabende wieder. Auch der spektakuläre polnische Countertenor und Breakdancer Jakub Józef Orliński gastiert. Ungewöhnlich ist der Veranstaltungsort einer Premiere mit zeitgenössischem Tanz: Im Rokoko-Ambiente des Cuvilliéstheaters bringt das Staatsballett "Sphären02 / Preljocaj" zur Uraufführung! Und dort können Kammermusikfans auch einfach mal wieder einen so gut wie unbekannten Komponisten der Spätromantik für sich entdecken, in einem moderierten Konzert von Mitgliedern des Staatsorchesters: Musik des Briten Samuel Coleridge-Taylor (Spitzname: "The Black Mahler"). So wird wieder völlig verschiedenen Geschmacksrichtungen Rechnung getragen.

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