Er war der populärste unter den Avantgardisten. Seine Kompositionen sind nicht nur ins Konzertrepertoire eingegangen, sondern funktionieren auch bestens als Filmmusik. Und das, obwohl sie kompromisslos komplex neue Wege beschreiten. Am 28. Mai wäre György Ligeti 100 geworden. Eine Annäherung an einen schillernden Charakter über zehn seiner Stücke.
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Klar, beim Namen Ligeti denkt man zuerst an "Atmosphères", an Stanley Kubrick und "Odyssee im Weltraum", an Klangwolken und Sternennebel. "Atmosphères" ist sicher Ligetis berühmtestes Orchesterstück – aber "Lontano", sechs Jahre später komponiert, ist sein schönstes. Eine "Liebeserklärung an die Harmonie", wie es der Dirigent Jonathan Nott formuliert hat. Hier schälen sich aus den für Ligeti so typischen, spinnwebenartigen Clustern immer wieder harmonische Felder heraus: eine traurige Terz, ein melancholischer Tritonus, ein Gefühl von E-Dur, wie Inseln, die dann wieder vom Ozean der Klänge überspült werden. "Dolcissimo expressivo" schreibt Ligeti in die Partitur, und sagt, er habe beim Komponieren an Märchenschlösser und verlassene Feenreiche gedacht. Ein traumhaftes Stück – im wahrsten Wortsinn! Und ein guter Einstieg in den Kosmos Ligeti.
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Lontano, by György Ligeti Lano, Stony Brook Symphony Orchestra with Eduardo Leandro
Ligeti war für seinen Humor berühmt, aber auch berüchtigt für seinen beißenden Sarkasmus. Einmal kam er nach einer Probe auf den berühmten Dirigenten am Pult zu und fragte mit maliziösem Lächeln: "Maestro, ich darf Sie nur um eine Sache bitten?" Der Maestro fühlte sich geschmeichelt: "Um alles, was Sie wollen!" Daraufhin Ligeti trocken: "Dirigieren Sie nie wieder meine Werke!" Ligetis Freude am Grotesken und Absurden ist auch in vielen seiner Werke spürbar, z.B. in den überdrehten "Aventures" oder in seiner einzigen Oper "Le Grand Macabre". Aber richtig entspannt wirkt Ligetis Humor erst in einem seiner letzten Werke, dem Zyklus "Sippal, dobbal" für Mezzosopran und Schlagzeuger. Da gibt es Nonsense-Gedichte (von Sándor Weöres), oder es geht um träumende Äpfel und sprechende Berge, die Ligeti lustvoll mit großer Trommel, Brummtopf oder Sirenenpfeifen kommentiert – Neue Musik zum Schmunzeln!
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Divertimento Ensemble - György Ligeti - Síppal, dobbal, nádihegedűvel - Rondò 2013
Eine Treppe aus Tönen, die sich wie eine Spirale nach oben windet, immer weiter und weiter, ins Unendliche. Ein ätherisch schimmernder Regenbogen, der aus dem Nebel auftaucht und wieder verschwindet. Klang-Kaskaden, die unablässig in die Tiefe zu fallen scheinen und doch gleichzeitig unmerklich in schwindelerregende Höhen aufsteigen. Die Klavier-Etüden sind ein raffiniertes Spiegelkabinett voller akustischer Illusionen, inspiriert durch so unterschiedliche Einflüsse wie afrikanische Musik oder die optischen Täuschungen eines Maurits Escher. Das, was man in den Noten sieht, was man spielt und was man hört, sind drei verschiedene Dinge, sagt die Pianistin Tamara Stefanovich: "Es ist wie bei einem Puppenhaus, bei dem die hintere Seite offen ist: Oben sieht man eine alte Frau, im Stock darunter zwei spielende Kinder, und ganz unten Mama und Papa. Diese Gleichzeitigkeit verschiedener Leben – das gibt es auch in den Etüden." Zum Einstieg eignen sich "Der Zauberlehrling" oder "L’Escalier du diable".
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György Ligeti: Étude No. 13: L'escalier du diable / The Devil’s Staircase
BR-KLASSIK widmet György Ligeti zum 100. Geburtstag mehrere Sondersendungen. In "Horizonte" geht es um Ligetis Klavier-Etüden "Études pour piano" . Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks interpretieren unter anderem Ligetis "Requiem". Und BR-KLASSIK überträgt den langen Ligeti-Themenabend vom SWR am Geburtstag selbst. Ligetis Violinkonzert wird außerdem im Juni im Rahmen eines Konzerts beim BRSO aufgeführt – mit dem Solisten Augustin Hadelich. BR-KLASSIK überträgt live im Radio und im Videolivestream.
John Cage hat den Zufall in die Musik eingeführt und damit den Werkbegriff ausgehöhlt. Stockhausen hat die Grenzen des Streichquartetts gesprengt, indem er die vier Musiker in vier Hubschraubern über den Köpfen der Zuhörer kreisen ließ. Und in La Monte Youngs New Yorker "Dream House" klingt seit Jahrzehnten derselbe Akkord. Ligeti dagegen hat den Konzertbetrieb nie so radikal in Frage gestellt. Seine Musik war nicht zuletzt deswegen so erfolgreich, weil sie sich problemlos in klassische Konzerte integrieren lässt. Sogar sein einstiges Skandal-Stück "Poème symphonique" ist heute ein beliebter, weil effektvoller Konzert-Opener. In ihm starten 100 Metronome gleichzeitig – voll aufgezogen, aber in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Nach dem anfänglichen Klick-Gewusel dünnt sich der der Klang aus, weil eines nach dem anderen verstummt. Am Ende bleibt meistens ein einsames, langsam tickendes Metronom übrig, das schließlich erstirbt – urkomisch und tieftraurig zugleich.
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György Ligeti: »Poème Symphonique« für 100 Metronome ⎮ François-Xavier Roth⎮Gürzenich-Orchester Köln
Es ist das wahrscheinlich einzige Stück, das in Donaueschingen und Hollywood gleichermaßen erfolgreich war: Bei seiner Uraufführung 1961 im Schwarzwald bescherte "Atmosphères" seinem Schöpfer den Durchbruch in der Avantgarde-Szene, sieben Jahren später weltweiten Kino-Ruhm – dank Stanley Kubrick, der seinen Science-Fiction-Film "2001: Odyssee im Weltraum" mit schwarzem Bildschirm und Ligetis Klängen eröffnete. Es war freilich ein Ruhm wider Willen, denn Kubrick hatte Ligeti gar nicht um Erlaubnis gefragt. Ligeti war zunächst empört, prozessierte und ließ sich dann mit 3000 Dollar abspeisen. Heute assoziiert jeder Weltraumbilder zu Ligetis Klangwolken, und das Stück ist trotz Atonalität, 56stimmiger Kanons und ausgetüftelter Mikropolyphonie fester Bestandteil vieler Astro- und Jugendkonzerte. Dabei hatte Ligeti beim Komponieren gar nicht das Weltall im Sinn, sondern seinen verstorbenen Freund Mátyás Seiber, dessen Andenken er die Partitur gewidmet hat. Aber er musste später zugeben: "Meine Musik in Kubricks Auswahl passt ideal zu diesen Weltraumphantasien."
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György Ligeti - Atmosphères - 2001: A Space Odyssey
Wieviel kann ein Mensch ertragen, ohne zu zerbrechen? Als ungarischer Jude hat Ligeti in jungen Jahren unsägliches Leid erlitten. Sein Vater wurde im KZ Bergen-Belsen ermordet, sein jüngerer Bruder in Mauthausen. Seine Mutter überlebte Ausschwitz, er selbst leistete Arbeitsdienst. Ligeti hat über diese Zeit selten gesprochen, jegliche Larmoyanz lag ihm fern. Aber in seiner Musik liegen Traum und Trauma womöglich näher beisammen, als uns bewusst ist. "Ich ärgere mich manchmal, wenn ich seine Stücke auf eine so schön polierte Weise gespielt höre. Da denke ich: leider musst du dich selber ein wenig brechen, um das zu spielen! Die Knochen müssen rausstechen", sagt die Pianistin Tamara Stefanovich. Das gilt besonders für die "Musica ricercata". In ihr macht Ligeti nach dem Krieg Tabula rasa. Das erste Stück besteht aus einem einzigen Ton, erst am Schluss kommt ein zweiter hinzu. In jedem weiteren Stück ist es dann ein Ton mehr, bis im letzten Stück alle zwölf Töne dabei sind. Es ist ein Versuch, aus dem Nichts eine neue musikalische Sprache zu schaffen. Das war Ligetis Antwort auf die Gräuel, die er erlebt hat: neu aufbrechen! Die Kunst wurde ihm zur Rettung.
Ohrenbetäubend, markerschütternd, dröhnend: Mit beiden Unterarmen drückt der Organist alle Tasten der Orgel, entfesselt einen Cluster über alle Register, der die Kirchenmauern zum Erzittern und die Kirchenfenster zum Vibrieren bringt. "Volumina" verwandelt das frömmste Instrument der Musikgeschichte in ein fauchendes, kreischendes, spuckendes Wind-Kraftwerk. Sofern es überhaupt zu einer Aufführung kommt. Der Bremer Dom untersagte 1962 vorsichtshalber gleich mal die geplante Weltpremiere, in Göteborg kam es bei der Probe zu einem Schwelbrand, und in Bern brannten bei einer späteren Aufführung alle Sicherungen durch. Den Siegeszug des Stücks (dessen Partitur übrigens weder Notenlinien noch Taktstriche kennt) hat das alles nicht aufhalten können. Denn wer den lärmenden Anfangsakkord übersteht, dem eröffnet sich eine abwechslungsreiche Reise durch faszinierende, ständig changierende, nie gehörte Klanglandschaften.
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György Ligeti Volumina
Wie gerne wäre Ligeti Naturwissenschaftler geworden! Aber als Jude war ihm 1941 das Studium der Mathematik und Physik verwehrt. Also ging er ans Konservatorium von Cluj – und wurde zu einem der größten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Die wissenschaftliche Neugier jedoch, das Interesse an physikalischen und mathematischen Phänomenen, an Proportionen und Strukturen ist ihm zeitlebens geblieben. Und so ist beispielsweise sein Klavierkonzert nicht nur beeinflusst von der komplexen Polyrhythmik afrikanischer Musikkulturen, sondern auch von fraktaler Geometrie, Julia-Mengen und Mandelbrot-Menge. Klingt kompliziert? Überhaupt nicht! Denn der Spieltrieb ist bei Ligeti mindestens genauso stark wie die Begeisterung für komplexe Zahlen. Am besten gleich mal den ersten Satz hören, durch den das Thema von Dave Brubecks "Blue Rondo à la Turk" swingt…
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György Ligeti: Piano concerto - UMZE Ensemble 2022.03.06.
Quirlig war er und eloquent. Er sprach lebhaft, gestikulierte dabei, war nie um eine Bemerkung verlegen. Aber als er ins idyllische Alpthal eingeladen wurde, um vor einem illustren Publikum einen zehnminütigen Vortrag über die Zukunft der Musik zu halten, trat er ans Rednerpult und sagte: nichts. Acht Minuten lang. Acht Minuten, in denen sich Unruhe in der Zuschauerschaft breitmachte – vom gespannten Warten über irritiertes Stühlerutschen bis zum Tumult. Männer in feinen Anzügen brüllten: "Hinaus mit dem Verrückten!", und schließlich zog man den tapfer schweigenden Komponisten vom Rednerpult herunter. Später hat er das Ereignis zur "kollektiven Komposition" deklariert. Was damals skandalös wirkte, erscheint heute wahrhaftig. Denn über die Zukunft könne man nur schweigen, so Ligeti. "Nur eines ist gewiss: dass die Zukunft vollkommen anders geartet sein wird, als es in der Prophezeiung heißt." Kann man nach Pandemie und Überfall auf die Ukraine eigentlich nur unterschreiben…
Kylwyrien – als Kind erträumte sich Ligeti zum ersten Mal dieses Land. Er zeichnete Karten, erfand eine kylwyrische Sprache mit eigener Grammatik, dachte sich die Geschichte des Landes, seine Gesellschaft, ja sogar ein Rechtssystem aus. Als Erwachsener wollte er eine ganze Oper über Kylwyrien schreiben. Am Ende entstand "Le Grand Macabre" – eine Mischung aus Mysterienspiel und Kasperletheater, in dem der Tod ein großmäuliger Scharlatan ist und das Ende der Welt verschläft. Es gehe, so Ligeti, in dieser Oper "um das Überwinden der Angst vor dem Tod durch Komik und Groteske". Urkomisch und originell ist schon die Ouvertüre für Autohupen. Der Komponist, der dem Tod während des Zweiten Weltkriegs selbst nur knapp entkam und menschliches Leid wie kaum ein anderer kennenlernen musste, dreht dem Sensenmann eine lange Nase – in dieser Oper wie in seinem ganzen Schaffen. Denn mag György Ligeti auch 2006 in Wien gestorben sein – in praktisch all seinen Werken mit ihrer überbordenden Fantasie ist er bis heute quicklebendig.
Sendung: "Ligeti-Themenabend" am 28. Mai ab 20:03 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (1)
Montag, 29.Mai, 06:22 Uhr
Konservativer Hörer
Grauenhafte Musik
Interessante Übersicht, wenn ich auch die ästhetischen Urteile des Autors in keiner Weise nachvollziehen kann.
Ligeti ist für mich weder populär noch ist seine Musik in irgendeiner Weise schön.
"Lontanto" wird vom Autor als "schönstes" Stück Ligetis angepriesen. Ich habe jetzt Notts Aufnahme mit den Berliner Philharmokern angehört. Ich wurde da keineswegs in eine Welt der "Märchenschlösser und verlassene Feenreiche", die Ligeti heraufbeschwören wollte, hineinversetzt, sondern in eine Welt des Grauens und der Bedrohung.
Preuss vergisst bezeichnenderweise zu erwähnen, dass Kubrick auch "Lontanto" in einem seiner Filme verwendet hat, nämlich in dem Horrorfilm "Shining", um genau solche negative Emotionen zu erwecken! Er hätte aber auch dazu ein Stück von Schönberg und Stockhausen nehmen können.
Die "Neue Musik" scheint überhaupt nur dieses eine Gefühl abbilden zu können, und es stellt sich die Frage, ob dies unfreiwillig ist: Grauenhafte Musik erzeugt das Gefühl des Grauens.