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Pablo Heras-Casado beim BRSO Fasziniert von Neuer Musik

Pablo Heras-Casado stand zuletzt 2021 im Rahmen der Konzertreihe musica viva mit zwei Uraufführungen am Pult des BRSO. Nun dirigiert er drei exemplarische Werke des 20. und 21. Jahrhunderts. Der Bogen spannt sich von Strawinskys "Feuervogel" über Ligetis Orchesterwerk "Lontano" aus dem Jahr 1967. Außerdem auf dem Programm : das Klavierkonzert der gebürtigen Russin Elena Firsova, das sie für den Pianisten Yefim Bronfman komponiert hat.

Dirigent Pablo Heras-Casado | Bildquelle: Felix Broede

Bildquelle: Felix Broede

BR-KLASSIK: Das Programm dieses Konzerts führt in eine ganz andere Welt als ein klassisches Abonnementkonzert mit vielen Sinfonien. Es führt in die Welt der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Mit Musik von Strawinsky, Ligeti und der Komponistin Elena Firsova. Was hat Sie zu diesem Programm inspiriert?

Pablo Heras-Casado: Das war seit langem mein Wunsch. Der "Feuervogel" ist eines der Meisterwerke, nicht nur des 20. Jahrhunderts, sondern der gesamten Musikliteratur. Und ich wollte dieses Stück unbedingt nach München, zum Bayerischen Rundfunk, bringen. Für mich ist es eines der vollkommensten, musikalischen Erlebnisse, die man auf der Bühne haben kann, auch wenn wir es heute ohne Tanz aufführen. Wenn man die Musik hört und ihre erstaunliche dramatische und auch visuelle Fantasie, mit der Strawinsky dieses Ballett komponiert hat, dazu die sehr hohe Virtuosität, die er von dem Orchester verlangt, dann ist das etwas Großartiges. Das war also der Ausgangspunkt. Dann haben wir beschlossen, ein Programm rund um dieses Stück zusammenzustellen.

Pianist Yefim Bronfman bat um eine Komposition

Um den 100. Geburtstag von György Ligeti aufzugreifen, wählten wir von ihm ein Stück, das ohne Choreographie auskommt, aber auch Bewegung und Dynamik bedeutet, nur in eine völlig andere und entgegengesetzte Richtung. "Lontano" ist ein Stück, in dem Raum und Timing verschwinden. Es geht nur um Farben. Man verliert den Sinn für die Zeit, man verliert den Sinn für die Realität. Und es ist eines der herausragenden Stücke des 20. Jahrhunderts. In der Mitte des Konzerts platzieren wir ein Werk von Elena Firsova. Als eine schöne Überraschung – in letzter Minute. Denn Pianist Yefim Bronfman hat dieses Stück an einigen Orten gespielt und er bat darum, es in unser Programm aufzunehmen. Meiner Meinung nach passt es perfekt, nicht nur wegen der Verbindung zu Firsovas Landsmann Strawinsky, sondern auch, weil Firsova in ihrem Stil einen Sinn für die russische Tradition hat und strukturell sehr offen ist.

Radio-Tipp

BR-KLASSIK übertragt den Konzertabend mit dem Dirigenten Pablo Heras-Casado, dem Pianisten Yefim Bronfman und dem BRSO live aus dem Herkulessaal der Münchner Residenz, am Freitag, 28. April, ab 20:05 Uhr.

Faszination Neue Musik

BR-KLASSIK: Als Dirigent arbeiten Sie auch viel mit Ensembles und Orchestern zusammen, die sich mit Originalklang und der entsprechenden Interpretation auseinandersetzen, zum Beispiel mit dem Freiburger Barockorchester oder mit dem Ensemble musicAeterna. Wie bringen Sie diese Erfahrungen ein für das Programm des heutigen Abends, und wo berühren sich die beiden Welten?

Pablo Heras-Casado: Ich habe mein ganzes Leben lang auch viel neue Musik dirigiert. Die Alte Musik, der Originalklang ist nur ein Teil meines Lebens, ein wichtiger Teil. Aber ein anderer sehr wichtiger Teil war immer die neue Musik. Als Student mit 19, 20 Jahren gründete ich mein eigenes Ensemble für Neue Musik. Wir haben sogar zeitgenössisches Ballett für einige lokale Tanzkompanien komponiert. Seitdem habe ich nie aufgehört, mit Ensembles für neue Musik in Kontakt zu bleiben. Bei Pierre Boulez habe ich viele Jahre studiert. Das war ein sehr wichtiger Abschnitt auf meinem musikalischen Weg. Ich habe ihm assistiert, er wurde ein Mentor für mich. Das Schaffen, nicht nur von Musik des 20. Jahrhunderts, sondern auch von zeitgenössischer Musik, ist ein Ort, mit dem ich mich sehr verbunden fühle. Jedes Jahr mache ich mindestens zwei oder drei Uraufführungen, arbeite mit Komponisten zusammen und dirigiere natürlich Musik aus dem 20. Das letzte Mal, als ich hier in München war, habe ich bei der musica viva zwei Uraufführungen dirigiert. Solche Konzerte sind für mich sehr wichtig und spannend.

Jeder Komponist, jede Komponistin, die wir jetzt auf der Bühne präsentieren, war der revolutionärste und radikalste seiner Zeit. Wenn man in ihre Partituren schaut, oder mit einem heute lebenden Komponisten arbeitet, schaut man jedes Mal tiefer und tiefer in die Partitur mit einer offenen Geisteshaltung – ohne Traditionsballast. Die historische Aufführungspraxis macht keinen Sinn, wenn man eine Beethoven-Symphonie nicht so klingen lässt, als wäre sie gestern komponiert worden, und das ist für mich die wirkliche Verbindung.

In Ligetis "Lontano" Raum und Zeit vergessen

BR-KLASSIK: Sie stoßen gleich mit dem ersten Werk die Tür auf in eine damals neue, revolutionäre Art des Komponierens: das Orchesterstück "Lontano" von György Ligeti. 1967 wurde es uraufgeführt, und es ist ein Werk, in dem die konkrete Wahrnehmung verschwimmt. Es geht um Mischungen, um feinste polyphone Strukturen, die ein neues Stimmengewebe ergeben. Was, glauben Sie, bewirkt das Hören dieses Werks beim Publikums gleich zu Beginn des Abends?

Pablo Heras-Casado: Ich denke, "Lontano" ist nicht nur für das Publikum, sondern auch für mich. Ich bin ja selbst ein Teil dieses Publikums, ein Stück ist, das einen so weit weg bringt von jeder Art der musikalischen Erfahrung, von jedem Ort, an dem man vorher war. Ich finde es fantastisch und ideal, das Konzert mit einem Werk zu eröffnen, bei dem die Sinne, das Gehör, nach ein paar Sekunden völlig verändert sind. Man spürt keinen Puls, keinen Hauch von Rhetorik. Es gibt keine Phrase, keine Artikulation, sondern "Lontano" ist ein reines Kontinuum sich ständig verändernder Farben. Und man weiß nicht genau, woher dieser Klang, diese Mischung kommt. Dahinter steckt eine sehr komplexe und dichte Polyphonie, die manchmal, aus etwa 50 verschiedenen Linien besteht, aber nicht in einer massiven Art und Weise, sondern auf die raffinierteste und irrealste Weise verknüpft. Für das Publikum ist es ein Stück, das man unbedingt live erleben muss. Denn die unmittelbare Wahrnehmung dieser Klangfarben als physisches Erlebnis bringen einen dazu, das man alles andere danach anders hören wird.

In Elena Firsovas Klavierkonzert ist Gefühl für Farben, Licht und Klang

BR-KLASSIK: Was darauf folgt, ist ein neues Klavierkonzert der russischstämmigen Komponistin Elena Firsova. 1950 wurde sie in – damals noch – Leningrad geboren. Seit 1991 lebt sie mit ihrer Familie in Großbritannien. Ihr Klavierkonzert op. 175 wurde von Yefim Bronfman uraufgeführt, er spielt es auch im Konzert mit Ihnen. Wie, denken Sie, wird das Publikum nach Ligetis "Lontano" das Klavierkonzert von Firsova, das zum ersten Mal hier in München auch erklingen wird, wahrnehmen?

Pablo Heras-Casado: Nun, es ist ein ganz neues Stück. Bisher wurde es nur in Amsterdam und auch kürzlich Berlin gespielt. Es gibt insofern dafür noch keine Aufführungstradition. Ich finde, dass Elena Firsova gleich zu Beginn ihres Konzerts ein sehr schönes Gefühl für die Farben und das Licht im Klang entwickelt. Aber dann kommen auch andere Passagen, in denen es viel dynamischer und manchmal, ich würde fast sagen, auf eine gute Art aggressiv wird. Die Texturen werden wirklich dicht und aufgewühlt. Ich kann in ihrer Musik auch Verbindungen zur russischen Tradition wahrnehmen. Der Klavierpart klingt streckenweise nach Rachmaninow, auch nach Schostakowitsch. Aber eben nur ein Hauch. Insgesamt ist dieses Konzert ein guter Kontrast, auch wenn es in der Stimmung dort beginnt, wo Ligeti aufhört.

Geheimnis und Sinn des Todes

BR-KLASSIK: Elena Firsova hat das Werk im März 2020 komponiert, kurz bevor ihr Mann gestorben ist. Sie sagte, in diesem Klavierkonzert gehe es ihr um die Fragen nach dem Geheimnis und auch nach dem Sinn des Todes. Haben Sie das Gefühl, dass diese Fragen beantwortet werden?

Pablo Heras-Casado: Um ehrlich zu sein, im Moment erlebe ich die Musik nur für sich. Die Verbindung zu einer definierten Botschaft oder einem Inhalt ist für mich manchmal nicht so präsent oder nicht so wichtig. In der abstrakten Musik ziehe ich es persönlich vor, es dem Publikum offen zu lassen. Übrigens auch den Musikerinnen und Musikern. Wenn man versucht, in eine bestimmte Richtung der inhaltlichen Deutung zu gehen, verliert man vielleicht andere Möglichkeiten, das Stück zu erforschen. Aber ich muss ehrlich sein, ich wusste gar nichts von ihrer Inspiration und Botschaft. Daher gestalte ich das Konzert mit dem Orchester sehr offen.

In der abstrakten Musik ziehe ich es persönlich vor, es dem Publikum offen zu lassen.
Pablo Heras-Casado

BR-KLASSIK: Das große Werk des Abends ist natürlich "L’oiseau de feu", der "Feuervogel" von Igor Strawinsky, 1910 in Paris uraufgeführt, entstanden in der Zusammenarbeit mit Sergej Diaghilew für die Compagnie Ballets Russes. Im Konzert wird der "Feuervogel" als konzertante Version gegeben. Was braucht es und was fordert es von dem Dirigenten und dem Orchester, wenn die Choreografie fehlt, der Blick auf die Bühne?

Pablo Heras-Casado: In der Literatur wurde vor allem Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die Ballettmusik sehr wichtig, und die großen Komponisten begannen, Ballettmusik zu komponieren, wie Bartók, Debussy, Ravel, Manuel de Falla oder Strawinsky. Diese Musik ist von solcher Qualität, von solchem Inspirationsniveau und sie hat eine so starke erzählerische Qualität, dass man durch den Klangraum hindurch die ganze Geschichte sehen kann. Gerade wenn man keine konkreten Tänzerinnen und Tänzer sieht, entsteht viel mehr Raum für die eigene Fantasie. Weil die Farben und die Orchestrierung so üppig sind und das musikalische Universum so umfassend gestaltet ist, kann man alles nachvollziehen. Natürlich wussten diese Komponisten, wie man das schafft, wie auch die guten Opernkomponisten. Sie erzählen bereits aus dem Orchestergraben. Die Musik wartet nicht nur darauf, dass der Sänger die Geschichte fortspinnt. Sie verstehen das Orchester als eine bedeutende dramatische Kraft, das die Handlung forttreibt. Aus diesem Grund kann man auch ohne Szene dem dramatischen Fluss folgen, sogar in den Übergangspassagen.

Bayreuth-Debüt auf dem Grünen Hügel

BR-KLASSIK: Oper ist ein gutes Stichwort. Sie werden in diesem Sommer den Grünen Hügel erobern. Sie geben Ihr Debüt bei den Bayreuther Festspielen, und zwar mit Richard Wagners Oper "Parsifal". Herr Heras- Casado, beschäftigen Sie sich jetzt schon mit den Abgründen des Grabens, mit der ganz besonderen Akustik im Bayreuther Festspielhaus?

Pablo Heras-Casado: Natürlich träume ich jeden Tag davon, und das schon seit langer Zeit. Die Akustik ist ein Wunder und mit nichts Anderem auf der Welt vergleichbar. Ich bin mir sicher, dass es eine Herausforderung wird, aber wir sollten nicht nur an die Herausforderung oder die Schwierigkeiten denken, sondern an das Geheimnis dieser Akustik, daran, es zu erforschen und es überall zu suchen. Und darauf freue ich mich. In Bayreuth spielt das beste Orchester der Welt für dieses Repertoire. Die besten Sängerinnen und Sänger und die besten Assistenten sind engagiert. Und ich habe die Chance, diesen Sommer eine ganze Woche lang dort intensiv einzutauchen. Aber klar, in dem Moment, in dem ich dort unten stehe, wird es darum gehen, die richtige Klangwelt zu kreieren.

Ich träume jeden Tag davon, und das schon seit langer Zeit.
Pablo Heras-Casado über sein Bayreuth-Debüt 2023

Sendung: "PausenZeichen" in der Konzertübertragung am 28. April 2023 ab 20:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (1)

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Donnerstag, 27.April, 20:50 Uhr

Robert

Was soll das heißen?

"Der "Feuervogel" ist eines der Meisterwerke, nicht nur des 20. Jahrhunderts, sondern der gesamten Musikliteratur. Und ich wollte dieses Stück unbedingt nach München, zum Bayerischen Rundfunk, bringen."

Der "Feuervogel" ist überall Standartrepertoire und auch in München wohlbekannt. Ich besitze zwei Aufnahmen mit dem SOBR (Maazel, Jasons), wurde aber bestimmt auch von Kubelik und Davis gegeben. Nach den mir bekannten Aufnahmen mit Casado zu urteilen, dürfte er das Niveau seiner Vorgänger schwerlich erreichen. Die gönnerhafte "Entwicklungshilfe" ist also nicht nötig.

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