Henri Marteau, weltweit gefeierter Violinvirtuose der Zeit zwischen Fin de Siècle und Erstem Weltkrieg – und als Deutsch-Franzose gebranntes Kind einer nationalistisch vergifteten Ära. Ein Leben zwischen Weltruhm und Weltkrieg.
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Nach der Mittagspause schallt es aus jedem Raum in der Musikbegegnungsstätte Haus Marteau im oberfränkischen Städtchen Lichtenberg, keine 300 Meter entfernt von der Grenze nach Thüringen. In den Räumlichkeiten der Villa findet gerade ein Meisterkurs des Pianisten Markus Bellheim statt. Studentinnen und Studenten aus ganz Deutschland sind in das Landhaus gekommen, um abseits des Trubels ihrer Hochschulen sich ganz aufs Wesentliche konzentrieren zu können, auf das Essentielle: auf die Musik, auf ihre Interpretationen, ihr Spiel.
"Es ist wie eine kleine Oase", findet die Studentin Delia von Bechtolsheim. Diese Ruhe, diese Abgeschiedenheit schätzte schon der frühere Hausherr in Lichtenberg: der Geiger und Komponist Henri Marteau. Anders als viele seiner Zeitgenossen wie etwa Jacques Thibaud oder Fritz Kreisler, ist Henri Marteau heute nicht mehr so bekannt. Aber der große Joseph Joachim selbst, dem Johannes Brahms sein Violinkonzert widmete, schlug Marteau als seinen Nachfolger an der Berliner Musikhochschule vor und empfahl ihn Kaiser Wilhelm II. Und in New York war er der Solist in dem Konzert, in dem Antonin Dvořák seine Sinfonie "Aus der neuen Welt" uraufführte, einen der großen "Megahits" der Klassik. Er war weltweit gefeiert und galt zwischen 1893 und 1914 als einer der besten Geiger seiner Zeit.
Samstag, 30. März 2024, um 14.05 Uhr: Das KlassikPlus – Musikfeature über Henri Marteau
Samstag, 30. März 2024, um 19.05 Uhr: Kammermusik von Henri Marteau
Haus Marteau in Lichtenberg | Bildquelle: Frank Wunderatsch / Haus Marteau Wenn Henri Marteau in den Sommermonaten in seine Villa nach Lichtenberg kam, nach einer anstrengenden Konzertsaison und fast täglichen Auftritten, genoss er die idyllische Umgebung. Von seiner Terrasse aus blickte er über die Hügel der Gegend und hinüber zur malerischen Altstadt mit seiner Burganlage. Und schon damals mischten sich gelegentlich die Klänge von übenden jungen Leuten im ganzen Haus. "Marteau hat selbst schon in seiner Lichtenberger Zeit hier in seiner Villa die Begabtesten seiner Schülerinnen und Schüler zu sogenannten Sommerakademien eingeladen", erzählt der Historiker Ulrich Wirz. Er ist Verwaltungsleiter der Musikbegegnungsstätte Haus Marteau, sorgt für den reibungslosen Ablauf der Kurse und hat sich bereits sein ganzes Berufsleben lang mit dem Leben und Werk von Henri Marteau beschäftigt.
Henri Marteau kam am 31. März 1874 in Reims zur Welt. Seine Herkunft sollte sein Schicksal als Künstler entscheidend beeinflussen, denn sein Vater war Franzose und seine Mutter Deutsche, so dass er sich beiden Ländern und ihren Kulturen gleichermaßen verbunden fühlte. Musik umgab schon den jungen Henri, so Ulrich Wirz: "Seine Mutter war eine geborene Schwendy, stammte aus Dresden. Ihre Mutter war Klavierlehrerin. In ihrem Elternhaus sind Richard Wagner und die Eheleute Schumann, also die Größen der damaligen Dresdner Musikwelt verkehrt." Als der einzige verbürgte Schüler von Niccolo Paganini, ein Italiener namens Camillo Sivori, als Gast bei den Marteaus eingeladen war, erweckte das im jungen Henri den Wunsch, Geiger zu werden. Zwei- bis dreimal in der Woche fuhr er mit seiner Mutter die etwa 150 Kilometer nach Paris per Bahn, um bei dem berühmten Violinpädagogen Hubert Léonard Unterricht zu nehmen. Als Zehnjähriger debütierte Marteau vor 2000 Leuten in Reims.
Sein internationaler Durchbruch gelang Henri Marteau 1887 in Wien, wo er unter der Leitung von Hans Richter, dem Uraufführungsdirigenten von Wagners "Ring", mehrere Konzerte gab. In einem Brief an seine Großmutter Louise Schwendy in Dresden schrieb der dreizehnjährige Junge, was er in Wien erlebt hat: "Auf Grund meines Erfolges lud mich der Tonkünstlerverein für den nächsten Abend zu einer Soirée. Ich traf dort mit den hervorragenden Vertretern des musikalischen Wien zusammen, unter anderem mit Brahms und (...) Goldmark, welche schon meinem Konzert beigewohnt haben. Der ernste Brahms zog mich am Ohr, unterhielt sich lange mit mir und gab auf meine Bitte Aufklärung über die Tempi seines Violinkonzerts und der neuen A-Dur Sonate. (...) Wenige Tage vor unserer Abreise klopfte es an die Tür unseres Zimmers im Hotel Imperial und eine tiefe Stimme rief: 'Hier Brahms!' Vor Schreck warf meine mit dem Ankleiden für die Oper beschäftigte Mutter den Kandelaber mit den Kerzen um. Die Tischdecke fing Feuer und statt der Begrüßung stürzte sich Brahms auf eine Wasserkaraffe und half bei unseren Löschversuchen. Dann sagte er zu Mama: 'Den Jungen wollte ich doch noch mal sehen, ist ein rechter Teufelskerl!'"
London lag dem jugendlichen Henri Marteau ebenso zu Füßen wie Berlin und Paris. Dort schrieb er sich mit 17 Jahren am Conservatoire ein und studierte Komposition bei Theodore Dubois. 1893 trat Marteau die erste seiner zahlreichen Tourneen durch die USA an – der Beginn seiner internationalen Karriere, die bis zum Ersten Weltkrieg von einem Erfolg zum nächsten führte.
Der Junge ist ein rechter Teufelskerl
Thomas Edison und sein Phonograph | Bildquelle: wikimedia commons / Library of Congress, USA
Einen Komponisten verehrte Henri Marteau über alle anderen: Johann Sebastian Bach. Seine Solosonaten und -partiten waren für Marteau der Gipfelpunkt der Violinliteratur. Daher ist es kein Zufall, dass er es war, der als erster Geiger überhaupt ein Stück von Bach auf einen Tonträger aufnahm. Bei einer Reise durch die USA im Jahr 1898 hat Marteau die Partita in E-Dur BWV 1006 auf einen Zylinder eingespielt, den Gianni Bettini aus dem Phonographen von Thomas Edison entwickelt hatte.
Das Jahr 1908 bedeutete einen Höhepunkt in der Karriere von Henri Marteau. Denn in dieses Jahr fällt seine Berufung als Professor an die Berliner Musikhochschule. Und doch warf dieses Ereignis auch die ersten nationalistischen Schatten auf Marteaus Wirken in Deutschland – wegen seiner deutsch-französischen Herkunft, wie Historiker Ulrich Wirz berichtet: "Das war ein Politikum ersten Ranges, denn das war der Lehrstuhl des berühmten Joseph Joachim, des bedeutendsten Geigenpädagogen im deutschen Raum und Freund von Johannes Brahms, eine Legende. Und dieser Joseph Joachim hat eben selbst schon Marteau als seinen Wunschnachfolger genannt. Nach seinem plötzlichen Tod im Sommer 1907 kam es dann eben zu Verhandlungen, und als diese ruchbar wurden, haben Kolleginnen und Kollegen, die Marteau nicht in Berlin haben wollten, dann eine Intrige gesponnen, die mit einer üblen Pressekampagne begleitet wurde und das Ganze dann wirklich um ein Haar zum Scheitern gebracht hätte."
Sechs Jahre lang war Henri Marteau der wohl einflussreichste Geiger Deutschlands – und international einer der begehrtesten. Er lebte in Berlin in einer repräsentativen Wohnung, wenn er nicht gerade auf Konzertreisen war und in den Grand Hotels der Kulturmetropolen nächtigte. Die Sommermonate verbrachte er auf seinem Anwesen in Lichtenberg mit der neu erbauten Villa. – Und dann kommt der Erste Weltkrieg.
"Die bayrischen Behörden sind auf das rigoroseste gegen mich vorgegangen", schrieb Henri Marteau an den preußischen Kultusminister und berichtete, was er als Sohn eines französischen Vaters und einer deutschen Mutter am Tag nach Kriegsbeginn erlebte. Marteau war beiden Ländern gleichermaßen zugetan, wie er immer wieder betonte, und fühlte sich der deutschen Kultur eng verbunden. Sein Problem war aber, dass er in jungen Jahren seinen Wehrdienst in der französischen Armee absolviert hatte. "Sofort nach erfolgter Mobilmachung wurde ich in meiner Eigenschaft als französischer Reserve Offizier auf Ehrenwort hier verhaftet. Zwei Tage später ließ mich das Bezirksamt Naila (…) durch einen Gendarmen in Uniform der Behörde vorführen. Diese Fahrt im offenen Wagen mit dem Gendarmen durch mehrere Dörfer hat bei der Bevölkerung die Vermutung hervorgerufen, ich sei ein französischer Spion, und bin ich und meine Familie den ernstesten Drohungen ausgesetzt."
Henri Marteau wurde interniert, seine Frau und die Töchter von der Bevölkerung ausgegrenzt – das ging so weit, dass sich Bäuerinnen und Ladenbesitzer weigerten, ihnen Lebensmittel zu verkaufen. Auch Marteaus Feinde an der Berliner Musikhochschule witterten nun ihre Chance und erreichten schließlich, dass er auf starken Druck hin seine Stellung als Professor aufgab. Die Demütigungen dieser Zeit gingen an dem bisher so erfolgsverwöhnten Geiger nicht spurlos vorüber. Während er von Februar 1917 bis Kriegsende unter Hausarrest stand, musste er täglich bei der Stadtverwaltung in Lichtenberg seine Anwesenheit quittieren. Diese Unterschriften sind erhalten, erzählt Ulrich Wirz, "und auch da kann man ablesen, wie ihn das persönlich getroffen hat. Denn die ersten paar hundert Unterschriften sind schwungvoll, wie man sie von einem Künstler mit Anfang 40 erwarten kann, und die letzten Unterschriften sind zittrig wie von einem Greis geschrieben. Das ist auch Ausdruck seiner psychischen Verfassung, in der er sich bei Kriegsende befunden hat." Am 1. Juli 1917 durfte Henri Marteau zum ersten Mal seit Kriegsbeginn wieder öffentlich auftreten. In der Kirche in Lichtenberg spielte er das Adagio seines bisher noch nicht aufgeführten Violinkonzerts, mit Begleitung der Orgel. Im Vorfeld kursierten Flugblätter in der Stadt, auf denen stand: "Wer in das Konzert des internierten Franzosen Marteau geht, ist kein Deutscher und verdient keine Achtung."
Bildquelle: Helmut Welte / Haus Marteau In dieser Lage besann sich Henri Marteau auf seine freundschaftlichen Beziehungen in Skandinavien. Dort war er stets willkommen und umschwärmt. An seinen schwedischen Schüler Göran Olsson-Föllinger schrieb er: "Mein ganzes Leben ist versauert durch diesen deutsch-französischen Antagonismus. Ich habe Lust, zu einem Volk zu gehören, das ich selbst wähle, und welches mir keine Vorwürfe macht, wie es beide, Franzosen und Deutsche, machen, weil ich eigentlich nur von den Deutschen die deutsche Kultur liebe (Beethoven, Mozart, und Schiller, und so weiter) und sonst alles französische liebe. Aber die Franzosen haben mir im Grunde nie verziehen, daß ich Joachim’s Nachfolger wurde." Im Frühjahr 1920 erhielt Henri Marteau die schwedische Staatsbürgerschaft, vor seiner Villa in Lichtenberg hisste er die Flagge seines neuen Heimatlandes, um zu zeigen, dass er von nun an unantastbar ist.
Mein ganzes Leben ist versauert durch diesen deutsch-französischen Antagonismus
Der Weltkrieg war zwar zu Ende, aber Europa nicht wiederzuerkennen – politisch ebenso wie gesellschaftlich. Henri Marteau bemühte sich, seine Professur in Berlin wieder zu bekommen. Aber die neue Regierung in Preußen warf ihm nun seine Nähe zu Kaiser Wilhelm II. vor, er galt als kultureller Repräsentant einer untergegangenen Ära. So blieb sein pädagogisches Wirken auf kurze Anstellungen beschränkt – von 1922-1924 an der Deutschen Akademie für Musik und darstellende Kunst in Prag und 1926/27 an der Musikhochschule in Leipzig. Zuletzt unterrichtete er von 1928 bis in sein Todesjahr 1934 am Konservatorium in Dresden. Außerdem intensivierte er seine Herausgebertätigkeit bei bekannten Musikverlagen, gab weiterhin privaten Unterricht und komponierte. Seine Verbitterung war jedoch so groß, dass Marteau auch nicht davor zurückschreckte, sich nach 1933 den örtlichen Nazi-Größen in Lichtenberg anzubiedern – nur weil er sich Hoffnung auf eine Professur in München machte. Im Sommer 1934 – nur wenige Monate nach seinem 60. Geburtstag – erkrankte Henri Marteau schwer und verstarb am 4. Oktober desselben Jahres in Lichtenberg.
Das Komponieren war für Henri Marteau Zeit seines Lebens nicht nur Nebensache, er betrieb es mit professionellem Anspruch. Keines seiner Werke ging allerdings ins allgemeine Konzertrepertoire ein. Insbesondere in seiner Kammermusik schrieb Marteau auf der Höhe seiner Zeit, verband den französischen Impressionismus mit den chromatisch aufgeladenen Klangschwelgereien eines Max Reger und beschritt aus seiner großen Bach-Verehrung heraus bereits um die Jahrhundertwende den Weg zum Neoklassizismus. Zwischen 2018 und 2022 veröffentlichte das Isasi Quartet das gesamte Schaffen von Henri Marteau für Streichquartett auf drei CDs – eine Co-Produktion von BR-KLASSIK Franken mit dem Label cpo. Darauf sind neben den drei reinen Streichquartetten zwei Liedzyklen für Singstimme und Streichquartett sowie ein Klarinettenquintett und ein Streichquintett. Sein erstes Streichquartett etwa komponierte Marteau mit 17 Jahren, noch als Student am Pariser Konservatorium. Umso erstaunter schreibt der Rezensent des Online-Portals klassik.com: "Es ist interessant festzustellen, dass Marteau bereits in seinem frühen Streichquartett Klänge evoziert, die wir bei Richard Strauss am Ende seiner Karriere wiederhören werden."
Sendung: KlassikPlus – Das Musikfeature am 30. März 2024, um 14.05 Uhr
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