97 Jahre und kein bisschen müde: Der schwedische Dirigent Herbert Blomstedt gastiert mit geistlicher Musik von Igor Strawinsky und Felix Mendelssohn Bartholdy beim BRSO in München. Woher er seine Energie nimmt? Im Interview mit BR-KLASSIK spricht er über seinen Glauben und seinen unerschütterlichen Optimismus.
Bildquelle: SF / Marco Borelli
BR-KLASSIK: Herbert Blomstedt, Sie leiten im kommenden BRSO-Konzert die "Psalmensymphonie" und den "Lobgesang". Beide Werke reflektieren den Glauben. Sie haben auch einen starken Glauben. Ist Dirigieren für Sie eine Art Gottesdienst?
Herbert Blomstedt: Ja, Musik und Gott sind fast synonym. Gott ist der, der die Musik geschaffen hat. Es gibt etwas von seinem Wesen in der Musik, man muss nur die Ohren öffnen. Die Welt ist so laut, besonders heute mit Krieg und so weiter. Die leisen Stimmen hört man kaum mehr.
BR-KLASSIK: Ist Musik mehr ein Empfangen als ein Tun?
Herbert Blomstedt: Es ist auch ein Geben. Musizieren in Gemeinschaft bereitet Freude. Wir kennen das Geheimnis der Musik nicht, auch wir Musiker nicht – obwohl wir alle Noten lesen können und ein großes Repertoire haben. Jeder Musikliebhaber kann sich Musik in seinem Kopf vorstellen. In der Erinnerung ist die Musik lebendig. Wie eine andere Stimme, die nicht unsere ist. Es gibt viele Menschen, die in ihrer Kindheit bestimmte Lieder gehört und diese dann vergessen haben, als sie erwachsen wurden. Aber vielleicht kommt das in der letzten Stunde des Lebens wieder. Das ist schön, die Musik geht nicht verloren. Sie setzt sich in der Seele fest.
BR-KLASSIK: Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Wahrnehmung von Musik sich über die Jahrzehnte verändert hat?
Herbert Blomstedt: Sie vertieft sich immer weiter. Man muss sich darin versenken, sich öffnen. Die Welt ist so laut, sie schreit nach Geld, Bedeutung und Selbständigkeit. Die Musik fordert uns zur Ruhe auf: Hör mal zu! Mach mal Stopp hier! Hör mal was anderes! Sie hat viel zu geben, wenn man ihr die Chance gibt. Die feinsten Stimmen sind die leisesten. Die größte Kraft, die ein Mensch haben kann, ist die Stille.
BR-KLASSIK: Ist das ein Lernprozess?
Herbert Blomstedt: Wenn man jung ist, sprudeln wir vor Bewegung, alles ist bedeutend. Man möchte alles mitmachen. Das ist normal und wunderbar. Es gibt so viel zu entdecken. Das Leben ist viel zu kurz – auch für einen 100-Jährigen. Man entdeckt mehr und mehr, was man gerne hören und lernen möchte. Wenn man denkt, man kann schon alles, dann ist man zu alt.
BR-KLASSIK: Viele Menschen schauen bewundernd zu Ihnen auf, aufgrund Ihrer enormen musikalischen Leistung, aber auch, weil Sie mit 97 Jahren vital und positiv sind. Viele fragen sich, wie sie das erreichen können. Was antworten Sie?
Herbert Blomstedt: Jeder Mensch ist anders. Es gibt eine wunderbare Aussage von Beethoven, der sehr religiös war, aber nie in die Kirche ging. In seiner "Missa Solemnis" heißt es: Wir Menschen sind alle fehlbar, aber jeder macht andere Fehler. Man bittet um Vergebung. Hilfe kann von Gott kommen, wenn man das ausprobiert. Irgendwann im Leben steht jeder vor dieser Alternative, wir gehen alle durch schwere Zeiten. Heute befindet sich die ganze Welt in einer schrecklichen Situation. Das ist furchtbar, aber Gott gibt eine Alternative, bei Gott ist Hoffnung.
BR-KLASSIK: Erklären Sie das gerne.
Herbert Blomstedt: Die großen Komponisten, die wir spielen, sind alle gläubig. Ich las neulich einen Brief des Schweizer Theologen Karl Barth. Er schreibt: Es gibt eine Überzeugung, dass das Schicksal dieser Welt nicht in Moskau oder Washington oder Mexico City entschieden wird, sondern auf einer höheren Ebene. Das klingt nebulös. Aber es ist der einzige Ausweg. Wir haben unsere menschlichen Ressourcen erschöpft. Diplomaten und Politiker, die das Beste suchen. Das hat nicht geholfen. Da ist so ein Schweigen. Aber die Musik ist offen für alle, die hören wollen.
BR-KLASSIK: Igor Strawinsky und Felix Mendelssohn Bartholdy haben ein ganz unterschiedliches Verhältnis zum Glauben ...
Herbert Blomstedt: Alle Menschen sind unterschiedlich, aber für jeden gibt es einen Gott, der eigentlich derselbe ist, groß und umfassend. Das ist für einen Menschen schwer vorstellbar. Man kann ihn nicht begreifen.
BR-KLASSIK: Bei Mendelssohn wirkt der Glaube gefestigt. Bei Strawinsky könnte man etwas Gebrochenes heraushören …
Herbert Blomstedt: Wir sind alle gebrochen. Strawinsky war ein Suchender und hat sich als religiösen Menschen bezeichnet. Doch wenn man seine Musik hört, fragt man sich: Was ist daran religiös? Das ist vielleicht eine ganz andere Art von Gott, als wir uns vorstellen. Strawinsky vertont in der "Psalmensymphonie" Davids Psalmentexte. Der Herr ist die zentrale Gestalt und immer in Großbuchstaben geschrieben. Strawinsky bringt dazu in jedem Satz einen C-Dur-Akkord. Es kommt in diesem Stück sonst kein anderer C-Dur-Akkord vor. Gott ist für Strawinsky also etwas Bildhaftes, ähnlich wie bei den orthodoxen Christen, in deren Kirchen viele Ikonen-Bilder hängen.
BR-KLASSIK: Und Mendelssohns Glaube?
Herbert Blomstedt: Mendelssohn ist ein ganz anderer Typ. Er war Jude, aber sein Vater hat sich taufen lassen, als Mendelssohn ein Kind war. Felix musste das später bestätigen lassen und hat auf 20 Seiten seinen Glauben persönlich notiert. Interessant ist, was er nicht glaubt: Er glaubte nicht an pietistische Übertreibungen nach dem Motto 'Wir sind alle sehr demütig, sitzen im Staub und bekennen uns als große Sünder'. Bei Mendelssohn gibt es überhaupt keine Sentimentalität in seiner Religiosität.
BR-KLASSIK: Haben Sie etwas Beispielhaftes erlebt?
Herbert Blomstedt: Ich war in Leipzig bei einem Festival und habe kurzfristig zwei Tickets für die Motette "Jesu, meine Freude" mit dem Schwedischen Rundfunkchor bekommen. Ich hatte aber keinen Gast, den ich hätte mitnehmen können. Am Ticket-Verkauf stand ein Mann, der kein Ticket mehr bekam. Er sah nicht gut aus, unrasiert, etwas verkommen, auf seinem T-Shirt stand "Heimatlos". Ich ging hin und sagte: "Ich habe ein Ticket für Sie, kommen Sie mit mir!" Er konnte es nicht fassen, kam aber nach etwas Überredung mit. Wir saßen ganz vorne, ich mit einem Alkoholiker. Dann kam der Chor und singt "Jesu meine Freude" – und dieser Mann an meiner Seite seufzt. Er schrieb am nächsten Tag einen Brief: "Ich bin periodischer Trinker. Aber ich versuche jetzt ein anderes Leben zu führen durch diese Musik, die ich gehört habe." Das ist ein großartiges Beispiel, wie Musik wirken kann.
Igor Strawinsky: "Psalmensymphonie" für Chor und Orchester
Felix Mendelssohn Bartholdy: Symphonie Nr. 2 B-Dur für Soli, Chor und Orchester, op. 52 "Lobgesang"
10. und 11. Januar im Herkulessaal der Residenz München
BR-KLASSIK überträgt das Konzert am Freitag, 10. Januar, ab 20.03 Uhr live im Radio.
Sendung: "Allegro" am 09. Januar 2025 ab 6.05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (0)