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Kritik – Herbert Blomstedt bei den Salzburger Festspielen Der Alte Mann und das "Mehr"

Am 11. Juli ist er 97 Jahre geworden, Herbert Blomstedt. Und er dirigiert immer noch. Zwar im Sitzen, aber deswegen keineswegs müde oder uninspiriert. Im Gegenteil: Er will immer noch ein Quäntchen mehr. Und die Wiener Philharmoniker folgen ihm schnurrend und betören mit Brahms und Mendelssohn.

Herbert Blomstedt | Bildquelle: SF / Marco Borelli

Bildquelle: SF / Marco Borelli

Dieser Mann hätte alle Zeit der Welt. Und er hat sie sich verdient. Aber Herbert Blomstedt, gerade 97 geworden, braucht die Zeit lediglich, um vom Eingang gen Pult zu tasten, eingehakt beim Konzertmeister der Wiener Philharmoniker, greisenhaft gebückt, bedächtig-wankend. Sobald er sich auf den Schemel am Pult setzt, bleibt dem ein oder der anderen im Publikum die Hand am gerade noch ausgepackten Bonbonpapier kleben, so unmittelbar lässt Blomstedt das "Schicksalslied" op. 54 von Johannes Brahms anstimmen.

Blomstedt mit viel Emphase und Gespür für Balance

"Langsam und sehnsuchtsvoll" hat Brahms als Anweisung drübergeschrieben. Bei Blomstedt ist es eher letzteres. Die Studioaufnahme aus seiner Zeit in San Francisco, über 30 Jahre alt, ist weit langsamer. Aber nicht nur das. Sie ist auch glatter, weniger emphatisch. Blomstedts Lesart in Paris vor 10 Jahren ist zwar etwas flotter, bleibt aber immer noch hinter diesem Vormittag in Salzburg 2024 zurück. Will Blomstedt, je älter er wird, immer noch ein Quäntchen mehr?

Faszinierend jedenfalls, wie er mit manchen Details Konturen schärft, die man lange nicht gehört hat, etwa ein fein schattiertes decrescendo auf den Worten "ewige Klarheit", unmittelbar vor der turbulent aufbrausenden dritten Strophe. Allerdings gelingt nicht alles reibungsfrei – wie beim Einsatz des Chores zu Beginn, der von den "seligen Genien" singt, die "droben im Licht" wandeln. Da geraten die umspielenden Flöten zu laut. Gewiss: sie sind ja da, um "glänzende Götterlüfte" und den "weichen Boden" zu untermalen. Aber sicher nicht im Vordergrund.

Aber die Gesamtbalance stimmt. Geführt von einem immer mal wieder leidenschaftlich ausholenden Blomstedt, dessen lodernde Lava-Passion für die Musik man in jeder Faser seiner dünnen Ärmchen spürt. Den dramatischen Teil umschifft er angenehm undramatisch, wenn die Menschen "wie Wasser von Klippe zu Kippe geworfen" werden, dann schlägt er nicht die peitschenden Viertel. Einmal pro Takt reicht aus.

Auch mit 97 Jahren niemals Dienst nach Vorschrift

Hier wird nichts inszeniert, was nicht durch die Musik ohnehin ausgemalt wird. Und in der Orchester-Reprise geschieht Wundersames: Da wattiert Blomstedt nochmal im Mikrobereich ab, die Pauke vermag gerade hörbar zu tupfen innerhalb eines scheinbar unendlich weichen und warmen Teppichs aus Streichern. Eindringlicher kann man Hölderlins berühmt gewordene Schlussworte aus dem "Hyperion" (aus dem der Text zum "Schicksalslied" stammt) nicht benetzen: "Komm! ins Offene, Freund!"

Felix Mendelssohn Bartholdy interessierte sich in seinem "Lobgesang" op. 52 dagegen für die christliche Ewigkeits-Ebene. In dieser Sinfonie-Kantate geht es viel um Licht- und Dunkelmetaphorik, das Leiden auf Erden und die Erlösung im Glauben, samt ausgiebigem Dank gen oben. Die Wiener Philharmoniker gehen das zunächst an als wär's Brahms, für Freunde der Historischen Aufführungspraxis ist das eher nix. Aber Blomstedt hat ein Ohr, damit es nicht zu romantisch überbordend wird, wobei manche Tutti-Passagen auf Kosten der Chorverständlichkeit gehen.

Aber spannend ist auch hier, wie hellwach Blomstedt gerade an den vermeintlichen Nebenschauplätzen ist. Beim Tenorsolo (Nr. 3) rudert er fast schon die Bratschen weg und lenkt die überschüssige Energie weiter zu den Ersten Geigen. Großartig, wie er mit allen Gruppen quer durch den Klangkörper kommuniziert – Dienst nach Vorschrift gibt es für Blomstedt auch mit 97 Jahren nicht.

Insgesamt ein umjubeltes Konzert

Tilman Lichdi singt einen höhensicheren Tenor, dessen nasal-enges Timbre jedoch nicht ideal ist, um zu verkünden: "Ich will dich erleuchten". Diese Nummer 6, in der die Stelle auftaucht, ist ein kleines Drama innerhalb der Kantate. Dreimal vergewissert sich der Tenor als Stimme der Toten beim Hüter der Finsternis: "Ist die Nacht bald hin?" Bis die Sopranistin Christina Landshamer dem ängstlich-Bibbernden endlich zur Seite springt und bestätigt: "Die Nacht ist vergangen." Freilich hat sich Mendelssohn nicht die Chance nehmen lassen, hier ein hohes a auf "vergangen" zu legen. Da hätte man sich von Landshamer allerdings ein wenig mehr vom dramatischen Gespür ihres Tenorkollegen gewünscht – so drang kein Lichtschimmer durch einen gerade geöffneten Spalt, die Tür war gleich ganz aufgerissen. Ansonsten aber eine (auch von Landshamer) bravouröse Vokalleistung und ein gerührter, mit vielen Bravi stehend umjubelter Blomstedt. Das dreistellige Jubiläum kann kommen.

Sendung: "Allegro" am 29. Juli ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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