Weihnachten ohne Hänsel und Gretel ist wie Advent ohne Lebkuchen: Alle Jahre wieder lockt Engelbert Humperdincks Märchenoper kleine und große Kinder ins Theater, um die Geschichte von den armen Geschwistern und der bösen Knusperhexe zu erleben.
Bildquelle: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
Engelbert Humperdinck war nicht der einzige Komponist, der sich im 19. Jahrhundert mit dem Wagner-Virus infizierte. Dass er trotzdem nicht zum nachahmenden Gralshüter wurde, lag vermutlich daran, dass er Wotan und Walhall zugunsten vertrauter Märchenfiguren links liegen ließ. Zwar raunen Leitmotive auch aus seinem spätromantischen Orchesterklang, aber "ungermanisch" aufgefrischt durch volksliedhafte Melodik. So wie in der Oper "Hänsel und Gretel", die ursprünglich als Wohnzimmersingspiel für Humperdincks Neffen und Nichten entstanden war. Den Text hatte seine Schwester Adelheid Wette nach Grimms Märchen verfasst.
Das Stück löste solche Begeisterung aus, dass der Komponist es schließlich zur echten, abendfüllenden Oper ausbaute. Sein "Kinderstubenweihfestspiel", wie er "Hänsel und Gretel" selbstironisch nannte, wurde am 23. Dezember 1893 in Weimar uraufgeführt. Am Pult stand Kollege Richard Strauss, der das "verteufelt schwere Hänselchen" als "Meisterwerk erster Güte" bezeichnete. Völlig richtig – denn obwohl es Generationen von Kindern erstmals in die Oper lockte und bestimmt nie enttäuschte, wird sein Ruf als harmloses "Kinderstück" seinem musikalischen Anspruch nicht gerecht.
Ein Meisterwerk erster Güte.
Wir haben die wichtigesten Fakten zur weltberühmten Märchenoper.
Der einschmeichelnde Tonfall etwa, in dem die Knusperhexe Rosina Leckermaul den armen Hänsel mästet, steht gewissen Trio-Idyllen in Mahler-Sinfonien an Doppelbödigkeit in nichts nach. Das verführte Regisseure bisweilen zu psychologisch fundierten, aber wenig familienfreundlichen Kannibalismus-Szenen im Hexen-Schlachthaus. Dabei sollen doch die verzauberten Lebkuchenkinder in Humperdincks Happy End alle wieder zum Leben erwachen!
Sie und das Knusperhäuschen sind dann wohl auch der einzig triftige Weihnachtsbezug – denn das Stück spielt vermutlich im Sommer. Sonst würden die Kinder nicht zum Beerensammeln in den Wald geschickt, die Nacht unter freiem Himmel würde trotz der 14 wachenden Engel zu einem gewaltigen Schnupfen führen und das Taumännchen könnte Eiskristalle verteilen. Dennoch ist "Hänsel und Gretel" auf Opernspielplänen im Advent genau richtig platziert, denn bei genauem Hören wird man feststellen – diese Oper ist mindestens so gehaltvoll wie ein guter Lebkuchen!
Sendung: Allegro am 4. Dezember 2024 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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