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Kritik – Igor Levit bei den Salzburger Festspielen Nebel und Noblesse

Bürger, Europäer, Pianist. Laut Eigenauskunft stellt Igor Levit sein musikalisches Talent gerne an die hinterste Stelle. Der politische Mensch kommt davor. Wenn er an den Tasten sitzt, sucht er auch nach menschlichen Extremen, geht nicht auf "Nummer Sicher". Beim Solo-Rezital im Großen Festspielhaus in Salzburg hat er sich Werke der drei Großen "B" ausgesucht: Bach, Beethoven und Brahms. Manchmal bleibt er allerdings zu nebulös. Licht ins Nebeldunkel bringt unsere Kritik dazu.

Igor Levit spielt bei den Salzburger Festspielen 2023 | Bildquelle: SF/ Marco Borrelli

Bildquelle: SF/ Marco Borrelli

War da was? Oder huschte da soeben die komplette Chromatische Fantasie und Fuge BWV 903 von Johann Sebastian Bach vorbei? Igor Levit geht den Beginn seines Solorezitals im Großen Festspielhaus in Salzburg mit gutem Drive an. Botschaft: Ins Blaue, hier wird drauflos fantasiert, alles fließt. Das ist grundsätzlich richtig für diese irrlichternden Noten, die Bach da ohne Rücksicht auf Form und Thema ins Papier gestanzt hat, ein quer durch alle Zirkel wirbelndes Fragezeichen, einmal mehr weit seiner Zeit voraus. Und Levit hat natürlich die Technik, das schnell spielen zu können, allein: er mag auch sehr das rechte Pedal, mit dem die Noten weiterklingen, obwohl die Finger die Tasten schon wieder verlassen haben. Und dieses Pedal hatte Bach nicht.

Bach auf dem modernen Flügel?

Natürlich kann, darf und muss Bach auf dem modernen Flügel gespielt werden. Aber in Sachen Pedal sollte gelten: die Dosis macht's. Auf seiner CD-Aufnahme des Stücks gelingt Levit das plausibler, trennt er (trotz Pedal) klar und transparent zwischen den Stimmen. An diesem Abend geraten viele Stellen zu vernebelt, bisweilen uninspiriert, etwa die geradezu tristanhaft-dissonanten Akkorde auf den letzten Takten vor der Fuge. Und auch dort, im Fugenteil, fängt er sein wunderbar leises und kristallklares Spiel der rechten Hand zu schnell mit dem Pedalkescher wieder ein – Schade.

Brahms der Melancholiker

Der ist bei den Sechs Klavierstücken op. 118 von Johannes Brahms deutlich besser aufgehoben, der Kescher. Und Levit fängt an zu zaubern, vor allem im Leisen, bei den grüblerisch-trüben Intermezzi, die auch eine Art Fantasie sind, frei vor sich hin fabulierend, suchend, hoffend. Mit sanftem Pathos formt er etwa im Zweiten Intermezzo jene tief in sich gekehrten Fragegesten, die Brahms gemeint haben mag, als er schrieb, jede Note solle so klingen, "als ob man Melancholie aus jeder einzelnen saugen wolle". Und Levit saugt, ohne das zu inszenieren – noble Größe. Und im letzten Stück, auch einem Intermezzo, schafft Levit das Kunststück, es wie eine freie Improvisation klingen zu lassen, bei stupend in den Raum gestochenem Bass und klarer Abstufung der Mittellage: Hier formt einer, der das Ganze klar vor Auge hat.

Liszt trifft auf Beethoven

Auftritt Franz Liszt, der auch etwas übrig hatte für das passende Formen des Großen Ganzen, vor allem, wenn es um das Non plus Ultra der Sinfonischen Welt seiner Zeit ging: Beethoven. Klavierauszüge von Opern sind mehr oder weniger Handwerk. Aber bei den Sinfonien von Beethoven konnte Liszt sein Pianistisches Übervirtuosentum mit der aufrichtiger Verehrung des "Heiligen" verbinden. Was technisch zum Teil haarige Verrücktheiten zutage förderte. Igor Levit fühlt sich allerdings pudelwohl mit der Siebten Sinfonie und geht sie von Beginn mit gelöster Handbremse an. Das bringt zwar manch wacklige Note mit sich, ist aber ungemein fesselnd und musikantisch fein gewoben.

Trauermarsch und Sog

Den zweiten trauermarschartigen Satz geht er – im Vergleich zu den meisten Orchestern – sehr flott an, wobei er einen Sog entwickelt, dem man nicht entkommt, angefangen mit den ersten Akkorden, die das klagende Thema vorstellen. Gerade so hörbar, aber wunderbar harsch und klar. Sanftes Grollen. Trockenes Tupfen. Famos. Wie dann die Melodie abhebt und im fugato-Teil perlend durch den riesigen Raum geistert, ist so entwaffnend, dass sich ein Teil des Publikums danach mit Blitzbeifall entladen muss – zur Freude von Levit, der, ganz geübter Conférencier, den Ball aufnimmt mit Verweis auf die Dicke der Partitur. Und sich dann in die haarausfallverdächtigen Stellen hechtet, als gäb's kein Morgen.

Ungewollt abruptes Ende

Und deutlicher als in manchen Aufführungen der Sinfonie mit Orchester werden hier die berühmt gewordenen Zitate von der "Orgie des Rhythmus" (Romain Rolland) und der "Apotheose des Tanzes" (Richard Wagner). Offenbar so deutlich, dass es Levit beim Schlussakkord fast aus den Latschen haut, bzw. an der Tastatur abrutschen lässt, sodass das Ende wie ein mezzoforte-Abbruch daherkommt. Netter Effekt, aber ungewollt. Also gibt Levit vor der Zugabe mit entschuldigender Geste den letzten Akkord nochmal zum Besten. Johlen. So, Entladung jetzt. Darauf dann die maximale Gegenseite: das cis-moll Nocturne Nr. 20 von Chopin als Seelenbalsam mit betörender Anschlagkultur und einer Dur-Auflösung im Fast-NIchts, die noch irrer gewesen wäre ohne die Brachialhuster. Standing Ovation.  

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